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Viele werden. Eine utopisch aufgeladene, elegische Widerstandhymne für die Flüchtenden dieser Welt und einen Trompeter

Viele werden. Eine utopisch aufgeladene, elegische Widerstandhymne für die Flüchtenden dieser Welt und einen Trompeter

Cover Mujila Mwanza Fiston Kasala für meinen Kaku (klein)

Michael Hammerschmid liest Fiston Mwanza Mujilas PANDEMONIUMSBASAR (für einen Trompeter) aus dem Band Kasala für meinen Kaku & andere Gedichte


PANDEMONIUMSBASAR
(für einen Trompeter)

wir sind Dutzende
Hunderte und vielleicht sogar Tausende, die
diese Namen tragen
die gleichen Prothesen seit dem Zeitalter der behauenen Steine 
die gleichen fast unaussprechlichen Schnörkel
die gleichen Silben mit Zitronengeschmack
sie verweisen, diese Namen, in entlegene Gegenden
und zerlegte Geographien
in die Mäander des kollektiven Gedächtnisses

Namen die
- ähnlich dem Kreuz auf einem verlassenen Grab -
anmuten wie Marktflecken, durchgeimpft im aberwitzigen Takt 
von zweiundsechzig Bomben täglich
Marktflecken mit verkrüppelten Häusern
im Keim erstickte Marktflecken
hungernde Marktflecken
von Cholera getroffene und (ohne Vorwarnung)
zur Friedhofsruhe reduzierte Marktflecken!
Marktflecken mit verkümmerten, blutleeren Träumen
vom Paradies entwöhnt
verunstaltete Marktflecken
eingedrückte Marktflecken
geisterhafte Marktflecken
ohne Strom und Fließendwasser
des lieben Gottes beraubt und den Dschihadisten ausgeliefert 
sowie anderen spinnerten Kämpfern
ohne Glauben oder Moral, die nichts anderes im Sinn haben 
als dem Leben die Fresse zu polieren

wir sind viele in diesem pathetischen Schaustück
Dutzende, Hunderte oder Millionen, die dasselbe Schicksal
zur Schau tragen
(einige von uns verschreiben sich dieser makabren Übung
seit der psychedelischen Geburt dieser niederen Gefilde)
die Angst zu besiegen und fieberhaft zu versuchen
mit allen Mitteln
– auf die Gefahr hin dabei den eigenen Leichenmüll zu hinterlassen – 
das Ägäische Meer zu überwinden oder das andere namens 
Mittelmeer
davon zu träumen die Türkei, Ungarn, Slowenien
oder Sibirien zu durchqueren
in der Hoffnung nach Frankreich vorzudringen oder bis zur
    schwedischen Hauptstadt
ohne überhaupt zu wissen, wo uns die Beine hintragen 
Hauptsache andocken

wir sind Hunderte
mit Angst im Bauch
die Körper mechanisch
von oben bis unten schimmelig
mit nichts bekleidet und schleppen in dieser
endlosen
Prozession mit, was von der Heimat übrig ist: das Lied der 
Papageien, der abendliche Tanz, das Lächeln, der Duft vom Tee, 
das Antlitz einer Mutter, das Fehlen eines Bruders ...

zu Hunderten stehen wir an der Tür
wir pochen und werden pochen, bis unsere Stimmen
bei euch Gehör finden
dabei warten wir seit dem Hahnenschrei
dass sich diese oder jene andere Stadt mit einer freundlichen Geste
       hervorhebt

zu Millionen sind wir in Griechenland geparkt
abgestellt in Libyen oder ausgebremst in der Türkei
tragen den gleichen nach Guaven duftenden Firlefanz zur Schau 
den Blick in den Sternen
entflammt für die Hoffnung
entschlossen zu überleben
indem wir der Erschöpfung trotzen und der Krankheit trotzen und
    dem Durst
trotzen und der winterlichen Kälte trotzen, dem Unwetter,
    den Schergen,
der Anarchie und der Sonne trotzen
bis wir unsere Hände nicht mehr fühlen, den Gebrauch
des Geschlechts verlieren, der Augen, der Rede, der Nase
und des linken Beins
bis wir Halluzinationen entwickeln
von einer Welt ohne Kalaschnikows fantasieren
unsere Träume lautstark formulieren
auf dass sie durch ihre Untersetzung den Wesen und den Dingen 
ihre Würde zurückgeben

weil wir durch Regen und Sonne laufen müssen 
durch Schnee und Schlamm
durch Einsamkeit und Hoffnung
wird uns schwindelig
und dadurch verlieren wir den Bezug
zu den Maschinen und zu uns selbst
wir wissen nicht mehr, wer wir sind
aus welchem Fleisch wir geknetet wurden
  oder welchem Stammbaum wir entspringen
  kurzum, was unsere Sitten waren und ob wir
  schon immer Menschen gewesen sind

die Erde dreht sich nicht mehr um die Sonne
sie stockt oder schaltet ab, je nachdem
und die gestrigen Räume werden rissig, so dass sie uns zum Exil
    verdammen
ohne Wiederkehr

falls wir aus Versehen merken, dass wir
in einer schweren, fast zerebralen
Utopie leben
haben wir indes keine Ahnung, wie
den Kopf aus dem Wasser exhumieren
denn es bedürfte womöglich einer maritimen Metapher
um dieser Verzweiflung die rechte Anatomie zu verleihen
sagen wir so: wir sind kleine Figürchen inmitten einer stürmischen
     See
sagen wir es nochmal so: das Wasser dringt uns schon in Mund,
    Ohren und Nase
sagen wir es nochmal so: der Schiffbruch ist offensichtlich groß

die Hunde stimmen somit ins Konzert ein
kaum dass wir des nachts jaulen
doch aus dieser zur Regierungsform erhobenen Kakophonie
erwächst nichts Genießbares
alles zerbricht
mit einem verheerenden Elan und wir, noch Millionen,
sind auf der Suche
nach einem Ort, um die letzten Worte niederzulegen
in diesem Pandemoniumsbasar, der die Welt ist

(aus Kasala für meinen Kaku & andere Gedichte 
/ Kasala Pour Mon Kaku et autres poèmes.
Aus dem Französischen von Elisabeth Müller. 
Ritter Verlag, Klagenfurt, 2022.) 

Bereits der Titel des Gedichts „PANDEMONIUMSBASAR“ von Fiston Mwanza Mujila lädt zur Interpretation ein, denn es sind in ihm zwei Worte zusammengesetzt, die den Klang des Fremden und Dunklen auf suggestive Weise anschlagen. Das Wort „Basar“ ist zwar durchaus gebräuchlich, gleichzeitig schwingt in ihm seine persische Herkunft mit, es verleiht dem Titel einen orientalischen Klang. Das Wort „Pandemonium“, weit weniger geläufig als jenes, ist John Miltons Versepos „Paradise Lost“ entnommen, wo es die Hauptstadt und das Zentrum der Hölle bezeichnet. Im Wortamalgam ergibt das Zusammenspiel von orientalischem Tauschhandel und Inferno ein düster-aufgewühltes Anfangsbild, das in der Übersetzung Elisabeth Müllers auch mit dem französischen Nebenklang des Wortes „bazar“ (umgangssprachlich auch „Chaos“, „Durcheinander“) korrespondiert.

Trompeter und EinMannOrchester

Werfen wir nun einen Blick auf den ungewöhnlichen Klammer-Zusatz des Titels, der das Gedicht einem Trompeter zueignet und es mit diesem Wink als Musikstück ausweist. Dies nimmt freilich nicht Wunder, wenn man an Fiston Mwanza Mujilas zahlreiche Auftritte mit verschiedenen Musikerinnen und Musikern denkt und an seine große Affinität zum Jazz und zu anderen Musikrichtungen. In dem im Gedichtband abgedruckten Interview bringt der Autor seine Position zur Verbindung von Musik und Literatur auf den Punkt, wenn er sagt: „Jeder Text ist eine musikalische Komposition.“ Und gleich darauf heißt es: „Was mich angeht, so verwende ich die (französische) Sprache, wie Max Roach sich seines Schlagzeugs bedient, Meskala seiner Trompete, Dudu Pukwana seines Saxophons, Bheki Msekuku seines Klaviers (…)“. Von hier aus erscheint es also durchaus folgerichtig, dass dieses Gedicht „einem Trompeter“ gewidmet ist. Wir hätten freilich auch einfach das erste Kasala – eine afrikanische Form der Beschwörung, des Lobpreises, der Anrufung – lesen können und wären auf eine Stelle gestoßen, die ebenso über Musik und Literatur, dies freilich in Gedichtart spricht:

ich habe beschlossen, das EinMannOrchester meines Schicksals zu sein 
ich selbst am Schlagzeug: KENNY CLARKE
ich selbst an der Trompete: MASEKELA
ich selbst am Klavier: TAPSCOTT
ich selbst am Kontrabass: MINGUS
ich selbst am Saxophon: SANDERS
dazu MAKEBAS begnadete Stimme 
und für meine Mutter MA’NANGA und die Sterne vom Himmel zu trällern
die Unabhängigkeit Cha-Cha-Cha

Das Ich wird hier zum praktizierenden Musiker, der sich zugleich in seine liebsten Musiker*innen und ihre Musik verwandelt und mit seinem polyphonen „EinMannOrchester“ nun sein Schicksal intonieren kann. Das Zitat stammt aus dem ersten Gedicht von „Kasala für meinen Kaku“, und die Stelle lädt sich programmatisch für den ganzen Gedichtband auf. Der eine Autor, der viele wird. Damit haben wir es bei Fiston Mwanza Mujila mit einer zentralen Eigenschaft seiner Dichtung zu tun, nämlich mit ihrer Multitude, also einer Vielheit an Stimmen, Klängen und Figurationen, die eben musikalisch, sozusagen einmannorchestrisch komponiert wird. Und einer Multitude begegnen wir nun auch gleich im Gedicht „PANDEMONIUMSBASAR“, die freilich noch ganz andere, nicht rein musikalische, sondern vor allem soziale Assonanzen ins Spiel bringt.

„wir sind Dutzende“

„wir sind Dutzende / Hunderte und vielleicht sogar Tausende, die / diese Namen tragen“, setzt das vierseitige Langgedicht ein, übrigens eine Form, die in Österreich selten geschrieben wird. Freilich haben ihr Ann Cotten oder Stefan Schmitzer, um nur zwei der bekannteren Autor*innen zu nennen, auch hier eine Schneise geschlagen, dennoch kommt sie bei Fiston Mwanza Mujila aus einer ganz anderen Tradition, einer mündlichen, afrikanischen und auch frankophonen, und entfaltet eine ganz eigene Dynamik. Gleich begegnen wir an diesem Gedichtbeginn einem „Wir“, und es definiert sich in seiner dreimal betonten Vielzahl „wir sind Dutzende / Hunderte und vielleicht sogar Tausende“. Dieses Wir hat also keinen bestimmten Begriff seiner eigenen Vielheit, es hat aber einen unbestimmten, eine Eigenschaft, die zunächst an das diffuse Wir des (rechten) Populismus denken lässt. Hier ist diese Unbestimmtheit freilich eine ganz andere, wie wir gleich sehen werden. Denn es handelt sich um keine gewählte, ideologisch zur Verundeutlichung und Manipulation eingesetzte, sondern um eine aus Not und Desorientierung entstandene Vagheit.

Diese Vielen werden in den folgenden Zeilen dann über die Qualität ihrer nicht genannten Namen charakterisiert: „wir sind Dutzende (…), die / diese Namen tragen“.

die gleichen Prothesen seit dem Zeitalter der behauenen Steine 
die gleichen fast unaussprechlichen Schnörkel
die gleichen Silben mit Zitronengeschmack
sie verweisen, diese Namen, in entlegene Gegenden 
und zerlegte Geographien 
in die Mäander des kollektiven Gedächtnisse

Die Un-Gleichen und das „diasporische Wir“

Mit dieser Aufzählung – das Gedicht, wie viele andere in dem Band, entwickelt seine Dynamik, seine Gestik und seinen Drive nicht zuletzt aus der Aufzählung –, mit dieser Aufzählung also wird dieses Wir über die Arten seiner Namen charakterisiert. Sie werden als „Prothesen seit dem Zeitalter der behauenen Steine“ bezeichnet, als „die gleichen fast unaussprechlichen Schnörkel“, als „die gleichen Silben mit Zitronengeschmack“. Die sinnlichen und aus sehr unterschiedlichen Bildspendern stammenden Metaphern reichern dieses Wir an, obwohl die Einzelnen einander über diese unterschiedlichen Qualitäten hinaus, die die Metaphern zum Ausdruck bringen, „gleichen“. Es wird mithin ein Widerspruch formuliert, der zwischen der Schönheit der vielen unterschiedlichen Namen auf der einen Seite und dem Gleichsein im Sinne eines Gleichgemachtwerdens durch den Blick auf diese Vielen auf der anderen besteht. „sie verweisen, diese Namen, in entlegene Gegenden / und zerlegte Geographien / in die Mäander des kollektiven Gedächtnisses“, heißt es weiter. Beinahe theoretisch mutet diese Formulierung an, man könnte sie sich in einem Essay gut vorstellen. Die Inversion „diese Namen“ verändert freilich den Ton und rückt ihn ins Poetische, ebenso die Genitivmetapher „Mäander des kollektiven Gedächtnisses“. Ort („Gegenden“, „Geographie“) und kollektives Gedächtnis werden hier ineinander geblendet, wodurch das „diasporische Wir“, wie man es nennen könnte, weiter an bildhafter Gestalt und Tiefe gewinnt.

Geografien von Elend und Zerstörung

Wir kommen zur nächsten der insgesamt zehn Strophen des Gedichts, die wieder mit den „Namen“ einsetzt und ein Bild der Zerstörung und des Elends zeichnet: „Namen, die / – ähnlich dem Kreuz auf einem verlassenen Grab – / anmuten wie Marktflecken, durchgeimpft im aberwitzigen Takt“, beginnt diese Strophe, und die Marktflecken werden nun vielmals angesprochen. Wir streifen mit dem Wort Marktflecken den Titel, „Basar“, doch sind diese Markflecken komplett zerstört und ihre Menschen pauperisiert. Markt und Namen, also das Wir, werden miteinander verglichen und u.a. beschrieben als „Marktflecken mit verkrüppelten Häusern / im Keim erstickte Marktflecken / hungernde Marktflecken (…) geisterhafte Marktflecken / ohne Strom und Fließendwasser / (…) ohne Glauben oder Moral, die nichts anderes im Sinn haben / als dem Leben die Fresse zu polieren“. Das Gedicht transportiert dieses Wir als eine Juxtaposition von Ort und Elend, von Namen und Namenlosigkeit, von Zerstörung und nochmal (sic!) Zerstörung. Denn der Nachdruck entsteht durch die variierte Wiederholung, strukturell-sprachlich, aber auch semantisch, indem dieser Vergleich des Wir mit der Geografie ein Bildfeuer des Elends zum Ausdruck bringt.

„wir sind viele in diesem pathetischen Schaustück“, heißt es dann weiter, und es wird in dieser nächsten Strophe nun klarer, von wem die Rede ist, nämlich von jenen, die „das Ägäische Meer“ oder „andere namens / Mittelmeer“ zu überwinden versuchen, um nach Europa zu gelangen. Der Ansatz des Gedichts besteht nun darin, diese selbst als Wir sprechen zu lassen, eine Art kollektive und vielfältige Stimme zu entwickeln und sich entfalten zu lassen. Wieder und wieder wird die Menge dieses Wir genannt: „wir sind Hunderte / mit Angst im Bauch“ oder „zu Hunderten stehen wir an der Tür“ oder „zu Millionen sind wir in Griechenland geparkt / abgestellt in Libyen oder ausgebremst in der Türkei“. Mit diesen Formulierungen nimmt das Gedicht die diffuse Angst vor den Fremden auf, wie sie in Europa so oft erzeugt und funktionalisiert wird, verwandelt sie aber auch zum Mittel potenzieller und tatsächlicher Stärke und potenziellen und tatsächlichen Widerstandes gegen die Angsthaber aus ganz anderen Gründen, nämlich die Machthaber der Länder, in denen diese vielen ihre Zukunft suchen. „ (…) wir pochen und werden pochen, bis unsere Stimmen / bei euch Gehör finden“, heißt es etwa. Aber auch: „und schleppen in dieser / endlosen / Prozession mit, was von der Heimat übrig ist: das Lied der / Papageien, der abendliche Tanz, das Lächeln, der Duft vom Tee, das Antlitz einer Mutter, das Fehlen eines Bruders (…)“.

Ohnmacht und Gegenkraft, die notwendige Lautstärke und die Frage der Würde

Fiston Mwanza Mujilas Gedicht ist aus Widersprüchen gemacht, die die Gleichzeitigkeit verschiedener Wirklichkeiten artikulieren. Einerseits wird die komplette Verelendung dieser Menschen benannt: „wir sind Hunderte / mit Angst im Bauch / die Körper mechanisch / von oben bis unten schimmelig / mit nichts bekleidet“, andererseits ihre Kraft:

indem wir der Erschöpfung trotzen und der Krankheit trotzen und 
     dem Durst
trotzen (…) 
bis wir Halluzinationen entwickeln
von einer Welt ohne Kalaschnikows fantasieren
unsere Träume lautstark formulieren
auf dass sie durch ihre Untersetzung den Wesen und den Dingen
ihre Würde zurückgeben

Hier entpuppt sich dieses Gedicht als utopisch aufgeladene, elegische Widerstandshymne auf die Elenden und Flüchtenden dieser Welt, die nach Europa kommen und deren innerer Auftrag, wenn man so sagen kann, darin besteht, Würde zurückzugeben. Wohlgemerkt, nicht Würde zurückzubekommen, passiv, sondern aktiv, diese zurückzugeben. An dieser Stelle könnte man diesen Auftrag im Gedicht des von der Demokratischen Republik Kongo 2007 nach Europa ausgewanderten Dichters Fiston Mwanza Mujila erfüllt sehen. Und das Gedicht formuliert diesen Traum selbst auch lautstark. Denkt man an Fiston Mwanza Mujilas Performances, so lädt sich diese Lautstärke ganz konkret mit einer Aufführungspraxis und Wirklichkeit auf. Denn seine Rezitationen sind oft äußerst laut, und dieses Recht auf lauten und deutlichen Ausdruck lässt sie noch einmal anders leuchten.

Bittere Entfremdung und die (potenzielle) Rolle von Zufall und Metapher

Die nächste Strophe thematisiert die Entfremdung, die das Elend, der Hunger, die Kälte und die grausamen Bedingungen auf der Flucht als Preis von den Flüchtenden einfordert:

weil wir durch Regen und Sonne laufen müssen
durch Schnee und Schlamm 
(…) 
verlieren wir den Bezug
zu den Maschinen und zu uns selbst
wir wissen nicht mehr, wer wir sind

In dieser Passage wird die Zerstörung der Identität durch Flucht bedrängend deutlich. Es ist eine der bittersten Stellen des Poems, da sie zeigt, wie schwer die Entfremdung wiegt, indem sie die Menschen ihres Selbstbezugs beraubt und ihnen so die Möglichkeit nimmt, sich als autonome, sich selbst definierende und erkennende Subjekte wahrzunehmen. Nur der Zufall scheint ein Fenster zur Selbsterkenntnis offenzulassen:

See Also
Portraitfoto Hannes Vyoral

falls wir aus Versehen merken, dass wir
in einer schweren, fast zerebralen
Utopie leben
haben wir indes keine Ahnung, wie
den Kopf aus dem Wasser exhumieren

Doch ist auch diese Formulierung schmerzhaft und abgründig, denn der Tod spricht hier mit. Als Leser*in muss man spätestens jetzt begriffen haben, dass es sich tatsächlich um die Beschreibung des Zentrums der Hölle auf Erden handelt. Und es ist allein die Ambivalenz im Paradox des Sich selbst-Exhumierens, das hier so faktisch unmöglich wie rätselhaft vielleicht doch möglich erscheint, mit der das Gedicht an dieser Stelle gleichsam – zumindest ins Sprachliche – transzendiert. Denn in der folgenden Passage wird die Metapher, auch wenn nur in einem doppelten Konjunktiv, für einen kurzen Moment als Befreiungs- und Hoffnungsmittel angesprochen.

denn es bedürfte womöglich einer maritimen Metapher
um dieser Verzweiflung die rechte Anatomie zu verleihen
sagen wir so: wir sind kleine Figürchen inmitten einer stürmischen 
     See
sagen wir es nochmal so: das Wasser dringt uns schon in den Mund, 
     Ohren und Nase
sagen wir es nochmal so: der Schiffbruch ist offensichtlich groß

Dreimal wird es also gesagt, drei Bilder fassen den Status quo zusammen. Es geht in dieser Conclusio um nichts weniger als um die Benennung des Todes durch die grausamen und unmenschlichen Bedingungen auf der Flucht. Das Gedicht endet nicht hoffnungsvoller als mit der oben kurz aufflackernden Metapher.

die Hunde stimmen somit ins konzert ein 
kaum dass wir des nachts jaulen 
doch aus dieser zur Regierungsform erhobenen Kakophonie 
erwächst nichts Genießbares 
alles zerbricht 
mit einem verheerenden Elan und wir, noch Millionen, 
sind auf der Suche 
nach einem Ort, um die letzten Worte niederzulegen 
in diesem Pandemoniumsbasar, der die Welt ist

Alles läuft hier auf den dunklen Gehalt des Titel zu. „alles zerbricht“, das Fazit ist so desillusionierend wie die Tatsache der von Woche zu Woche auf der Flucht strandenden, verelendenden, umkommenden, ertrinkenden Menschen. Das Gedicht äußert Solidarität mit diesen Menschen. Es variiert sein Thema der Multitude, der Vielheit jenseits der scheinbar „europäischen“ Einheit, und es gibt die Stimme der Trompete, die die Europäer im Mittelalter vom Orient übernommen haben und die in der Musikgeschichte oft zu einer Stimme von großen Kräften und Mächten wurde wie beispielsweise bei Mozart, dessen Don Giovanni auf seiner Höllenfahrt bekanntlich von Fanfaren begleitet wird.


Fiston Mwanza Mujila: Kasala für meinen Kaku & andere Gedichte / Kasala Pour Mon Kaku et autres poèmes. Aus dem Französischen von Elisabeth Müller. Mit einem Interview des Autors von Antoine Wauters. Ritter Verlag, Klagenfurt, 2022. 176 Seiten. € 23,–

Eine Besprechung von Nicole Streitler-Kastberger zu Fiston Mwanza Mujilas Kasala für meinen Kaku & andere Gedichte finden Sie hier.

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