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writer und wirt

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Stefan Schmitzer liest „relativität ist freiheit“ von Herbert J. Wimmer

Die Sammlung „Relativität ist Freiheit“ von Herbert J. Wimmer umfasst laut Untertitel „200 Gedichte“, verteilt auf zwei Kapitel. Eines dieser beiden heißt „Fenster wie Tage“ – damit ist schon gesetzt, dass wir durch die Texte wie durch Fenster schauen, und diese glichen darüber hinaus Tagen  … aber inwiefern? Was meint die Gleichsetzung konkret? – Um das zu beantworten, scheint in einem der beiden Verzeichnisse im Anhang (jenem, das die „entstehungsdaten“ auflistet) zu jedem Gedicht auch noch vermerkt worden zu sein, es handle sich um einen „sonntagstext“, oder „dienstagstext“, oder (häufig) einen „pfingstmontagstext“ und so weiter. Tage also wie Großwetterlagen, die das Licht auf den Gedichtgegenständen so oder so beeinflussen; und erst im nächsten Schritt Fenster wie Tage – Gedichte wie Fenster …

Womit wir schon mitten in der Textrezeption sind, denn so wie in diesem Titel operiert Wimmer in seinen (meist) aphoristischen Gedichten häufig genug. Uns die einzelne Kippfigur oder Verknüpfung, um die das Gedicht geordnet ist, gedanklich durchspielen und auf ihre erste Permutation zurückverfolgen zu lassen, ist sein Kerngeschäft. Er scheint darin stilistisch eher vom österreichischen Radiokabarett der Ära „Guglhupf“ und der dazu korrespondierenden schönen Literatur zu kommen, die zu gleichen Teilen zum Selberlesen, für die Kabarettbühne (in Figurenrede) und den Vortrag (ohne Figurenrede)  geschrieben schien … 

© Copyright Klever Verlag

Texte, meist mit der groben Struktur des Witzes, und damit auch mit dessen Vorschein von dem, was mit Recht Volkstümlichkeit hieße, wenn es das schreckliche Genre „volkstümlicher Musik“ nicht gäbe – Mündlichkeit, antiautoritäre Stoßrichtung –, aber ohne den Zwang zur lustigen Pointe, der dem Witz auferlegt ist. Kostprobe:

054.
 
symbiose

wirt und writer
wirtlich
wirtlichkeit
wirtlichkeiten
unwirtlichkeiten
unwirtlichkeit
unwirtlich
verwirtlicht
unverwirtlicht
writer und wirt

Das andere Kapitel trägt, laut der Überschrift im Buchinneren und jener im erwähnten Register der Entstehungsdaten, den Namen „Relative Wirklichkeiten“. Laut der Überschrift im eigentlichen Inhaltsverzeichnis dagegen heißt es „Gemischte Wirklichkeiten“. Ist schon klar, was da zwischen „relativ“ und „gemischt“ passiert ist: Man war sich in irgendeiner Bearbeitungsstufe des Lektoratsprozesses zwischen Autor und Verlag nicht mehr sicher, ob jede*r Leser*in sich unter der stärkeren Überschrift auch etwas vorstellen kann und erwog kurz einen einfacheren, generischen Kapitelnamen … der dann, an entlegener Stelle, in den Fahnen kleben blieb. Stört nicht. Lenkt unsere Aufmerksamkeit vielmehr auf den Buchtitel selbst – „Relativität ist Freiheit“. Das kann meinen, sich nicht festnageln lassen zu wollen („relativ“ als Gegenteil von „absolut“). Kann aber auch bedeuten, in der Bezogenheit – relativ zu Anderem – erst von Freiheit reden zu können. Das wäre dann die Befreitheit aus dem luftleeren Raum. Jedenfalls scheinen (mir) die Gedichte des zweiten Abschnitts im Durchschnitt länger; erscheinen mir auch – bei gleichgebliebenem stilistischen Grundton – interessierter am (grob: lebensweltlichen, beziehungs-alltäglichen) Inhalt als an der (grob: aphoristischen) Form:

008.

gemischte wirklichkeiten

wirklichkeiten mischen sich
ineinander mischen sich
ineinander ein
virtualitäten gehen in reales über
reales in virtuelles
gleichzeitig / ungleichzeitig
mal dichter mal dünner

wer unterscheidet?
wer unterscheidet wie? 

wie leben wir die prozesse 
des unterscheidens

übersetzen wir die unterschiedlichen
prozesse des unterscheidens
für einander miteinander
gegen einander

im übersetzen des nachdenkens
über das übersetzen
wird übersetztes übersetztes
in übersetztes übersetzt
übersetzt sich was übersetzung ist
übersetzung wird:
viele wirklichkeiten viele mischungen

Der zweite Abschnitt umfasst auch, mit „045. synonymdynamik präsenslücke. in memoriam ludwig harig“ einen Text, in dem Wimmer noch einen Schritt weitergeht, als die Permutationen jener Freiheit, die die Relativität ist, durchzuspielen und abzubilden. Hier vergrößert Wimmer aktiv die Relativitäts-, also die Freiheitsgrade, ohne die Struktur aufzugeben. 045 ist nicht der einzige solche Text in dem Band, aber m.M.n. das zitabelste Beispiel – es ist auch kein Zufall, dass er einer von nur 18 Texten ist, die laut dem Entstehungsdatenverzeichnis nicht 2010 allein entstanden sind, sondern 2018 nachbearbeitet wurden):

See Also

autostrada
wird/war ein synonym für bitte
budike
wird/war ein synonym für corps diplomatique
cum tempore
wird/war ein synonym für dosenöffner
durchreisevisum
wird/war ein synonym für einkesselung
erschrecklich
wird/war ein synonym für feudalstaat
filibustern
wird/war ein synonym für gelbsucht
gonokokkus
wird/war ein synonym für hohepriesteramt
hypertonie
wird/war ein synonym für impulsamt

… und so weiter bis z:

ysop
wird/war ein synonym für zweigespann
zwirnsfaden
wird/war ein synonym für aeroplan

Der Punkt dabei scheinen weniger die Synonyme selber, oder ihre Anordnung als code-hafte Kaskade. Der Punkt scheint das „wird/war“. Denn zu jedem der Zweizeiler können wir uns (das ist der witzhafte Aspekt im weiter oben erwähnten Sinn) eine absurde Geschichte denken, wie gerade dieses Synonym, dies Ersetzung, Sinn ergebe – aber es ist das „wird/war“, das unsere Gegenwart bei der Lektüre (die „präsenslücke“ im Text) als den einzigen Moment der Ordnung, der Orientierung ausweist. Genau, da wir sie auf den Begriff bringen, geschieht die Transformation nicht. Sonst immer. Anders gesagt: In diesem Gedicht sind genau so viele phantastische Transformationen möglich, wie NICHT zum Ausdruck gebracht werden; es geschieht genau so viel Codierung, wie nicht geschieht; der Text steht empirisch da und entfernt sich doch selbst aus dem Präsentsein: „präsenslücke“.

Ich glaube, mich zu erinnern, es stünde bei Priessnitz irgendwo (und wenn’s wo anders steht, dann bitte um Berichtigung): dass wir erst, wenn eine Ordnung einmal gestört werde, in die Lage versetzt seien, sie wahrzunehmen. Herbert J. Wimmer holt aus dieser Prämisse einiges heraus.

Herbert J. Wimmer: relativität ist freiheit. 200 Gedichte. Klever Verlag. Wien. 2019. 232 Seiten.

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