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Verfeinstofflichte Zeit

Verfeinstofflichte Zeit

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Michael Hammerschmids Begegnung mit Adam Zagajewskis
2003 erschienenen Gedichtband Die Wiesen von Burgund

in memoriam Adam Zagajewski, der am
21. März 2021 mit 75 Jahren verstorben ist

Adam Zagajewskis „Die Wiesen von Burgund“ fand ich vor bald zwei Jahrzehnten nach einer Lesung im Berliner Literaturhaus in der dortigen Buchhandlung. Die Ledertasche, die ich damals trug, schräg über die Schultern und stets zu voll wegen der Bücher, die ich nicht zuhause lassen konnte, sondern mit dabeihaben wollte, bot gerade noch genug Platz. Das Buch verließ mich in der Folge nicht mehr. Nistete sich in meiner Tasche und meinen Folgetaschen ein und versorgte mich fortan mit dem Stoff der Phantasie, des Nachdenkens, Vorstellens, den es wie ein von Sonne aufgeladener Stein gespeichert hielt. Das mir so körpernahe Buch mit seinem Ausschnitt aus Nicolas Poussins „Landschaft mit Diogenes“ auf dem Cover, das Distanz und Verlockung zugleich zum Ausdruck bringt, beginnt mit dem Gedicht „Sprache“: 

Eingesperrt im weißen Käfig
Versucht sie bei kleinster Luftbewegung zu fliehen
Zeichnung von Michael Hammerschmid des Covers des Gedichtbands "Die Wiesen von Burgund" von Adam Zagajewski

Die Sprache wäre also etwas, das eingesperrt ist, was ja heißt, sie ist eigentlich frei, doch ist ihr Käfig weiß, wie das Blatt Papier vielleicht, und sie ist derart rezeptiv, empfindlich, dass sie „bei kleinster Luftbewegung zu fliehen“ versucht. Höchste Aufmerksamkeit, Behutsamkeit im Umgang mit ihr leitet sich von diesem Bild ab, in dem vermittelt auch von der Gefahr die Rede ist, sie ans Gefängnis zu verlieren. Projiziert man das Bild in die Zeit kommunistischer Staatsrepression in Polen, der der Erneuerer der polnischen Dichtung Adam Zagajewski (er war einer der Mitbegründer der sogenannten „Neuen Welle“) derart ausgesetzt war, dass er Anfang der 80er Jahre über West-Berlin und die USA nach Paris floh, so lädt sich dieser Käfig noch einmal anders auf, auch wenn das Gedicht lange nach dieser Erfahrung geschrieben sein mag. Die Dichtung erscheint als ein autonomes Wesen mit Hang zur Fluchtbewegung. Deshalb braucht es die Freiheit umso mehr, um ihr Raum zur Entfaltung zu geben. Die Luzidität des Bildes selbst scheint jedenfalls kein Entkommen zuzulassen, als ginge es um „Alles oder Nichts“ und das heißt fürs Gedicht um höchstmögliche Aufmerksamkeit und größtmögliche sprachliche Nuanciertheit.

© Zeichnung: Michael Hammerschmid

Ich blättere im Band. Irgendwo hineingetaucht, aufgeblättert, und wieder springt mir ein erster Gedichtvers entgegen (S.63):  

Literarische Ratten - sagt R. - das sind wir.

Auch hier reichen diese wenigen Worte, um meine Aufmerksamkeit ganz auf sich zu ziehen. Man möchte am liebsten zustimmen und sich zu diesen Ratten zählen, wahrscheinlich ihrer Intelligenz und Kühnheit wegen, die man ihnen nachsagt. Doch wird man die Ironie dieses Sprachbildes im selben Zug bemerken, die einem jeden Anflug von Heroik bei der Identifikation mit den gleichzeitig doch so schlecht beleumundeten Ratten fragwürdig erscheinen lassen muss. Ja, Adam Zagajewski versteht es, den Grat zwischen Bejahung und Zweifel, zwischen Verführung und Abgründigkeit ganz genau zu gehen. Ich blättere noch einmal in dem Gedichtband weiter und werde wieder von ersten Versen eines Gedichtes angezogen, das zufällig wieder mit einem abgekürzten Namen, diesmal allerdings im Titel, arbeitet:   

Für M.
Unter den Sternen eines anderen Himmels lag ich 
um Mitternacht im schwarzen Gras. 
Die Mitternacht atmete langsam, lässig, 
und ich dachte an dich, an uns, 
an die Augenblicke, strahlend und stechend, 
dem Gedächtnis wie ein Stachel 
der schlanken Athletenferse entnommen.
(…) 
Michael Hammerschmids Zeichnung einer Umhängtasche mit dem Gedichtband"Die Wiesen von Burgund" von Zagajewski Michael

Wie schwarz ist dieses Gras. So schwarz wie Gras noch nie in meiner Vorstellung war. Das Adjektiv heftet sich an das Substantiv und durchdringt es bis ins Kippbild von Verschwinden und Überdeutlichkeit. Ach, wie gerne läge ich zu Mitternacht in diesem Gras, und brauche mich doch nicht mit diesem Ich zu identifizieren, um diese Sehnsucht zu spüren. „Die Mitternacht atmete langsam, lässig“, die Wahl und die Kombination der Adjektive, Adverbien, sie gehört sicher zu den Besonderheiten und Eigenheiten von Adam Zagajewskis Dichtung. Und wieder schwingt eine Fremde in diesem Bild mit, die dem Autor als Geflohener auf den Leib geschrieben zu sein scheint. Welcher andere Himmel mag das sein, unter dem dieses Ich liegt?

© Zeichnung: Michael Hammerschmid

Und was für eine Mitternacht, die „langsam, lässig“ atmete? Es könnte ein Himmel sein, der das Ich des Gedichts von seiner Geliebten trennt. Das Gedicht spricht von dieser Fremdheit, man könnte sie die schwarze Fremdheit nennen, und von der Sehnsucht, man könnte sie die schwarze Sehnsucht nennen und man könnte sie sich als eine Form der Melancholie vorstellen. Ich kenne das Original nicht, doch Karl Dedecius, der bedeutende Übersetzer und Vermittler polnischer Literatur, hat mit den beiden Adjektiven, die die Mitternacht charakterisieren, sichtlich etwas getroffen. Fast klingt es wie ein Widerspruch. Zu langsam klingt „langsam“, um lässig zu sein, und doch bereichern sich die beiden alliterierenden Worte, und die Mitternacht, ein kleiner Punkt in der Zeit, dehnt sich aus, wird größer als er selbst, und so eigenständig, weil er mit diesen beiden adverbial gebrauchten Adjektiven Charakter bekommt. Vielleicht könnte man sagen, die Erscheinungen, die Welt, die Ereignisse, Begebenheit und auch die Dinge und (ihre) Sprache bekommen in Adam Zagajewskis Poesie Charakter. Sie bekommen etwas, das ihnen auf den ersten, flüchtigen Blick abzugehen scheint. Und sie verwandeln sich in seinen Gedichten in Substanz(en), nehmen dabei eine sinnliche Stofflichkeit und zeitlupenhafte Überdeutlichkeit an, die nicht zuletzt durch Reibung der Nuancen lebendige Wärme erzeugen kann. Adam Zagajewskis Gedichte lassen sich von hier aus als Inkarnationen von Zeit verstehen, als Inkarnationen geformter, dichterisch ausgeformter, verfeinstofflichter Zeit.   

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Foto Buch Vricic von Isabella Feimer

Schauen wir noch ein Stück weiter in das Gedicht: 

Eines Tages wurde das Meer dunkel, 
bedrohlich, Helmblumen des Sturms rasten 
über die runzlige Wasserfläche. 
Es hätte auch die Kindheit sein können, 
das Land der leichten Ekstase und des ewigen Verlangens, 
der rote Mohn im Munde des Nachmittags
und die Kirchtürme, wachsen wie Kolibris. 

Zweifellos eine Verdichtung von Vergleichen und Metaphern, eine Verdichtung im dichterischen Sinn, die mit einem erzählerischen Duktus („Eines Tages…“) einsetzt. Nie gesehene, nie gehörte Metaphern nehmen die Fahrt auf. Die Passage kulminiert im Bild der Kindheit, das über die geradezu unmittelbar berührte Wasserfläche vermittelt, eintritt, als „Land der leichten Ekstase und des ewigen Verlangens, / der rote Mohn im Munde des Nachmittags / und die Kirchtürme, rasen wie Kolibris.“ Die Stilmittel scheinen der klassischen Poesie zu entstammen, freilich losgelöst von Reim und Versschemata, aber die Anwendung öffnet sie von innen, transzendiert sie nahezu, und beweist, dass die Sprach- und sogenannten Stilmittel nicht ausschöpfbar sind, sondern steter Erneuerung harren. Und wieder überrascht nicht zuletzt das Adjektiv, „leichte Ekstase“, eine höchst ungewöhnliche Steigerung der Leichtigkeit und der Ekstase selbst. Der Ekstase nämlich in etwas, das man mit ihr zu verbinden vergisst. Wildheit wird ihr wohl eher zugeschrieben als Leichtigkeit. Doch das Fenster der Sprache ist bei Adam Zagajewski weit offen, und die Ekstase wird leicht. Die Metapher „der rote Mohn im Munde des Nachmittags“ scheint noch einen weiteren Gipfel der Ausdruckskunst draufzusetzen. Es ist ein sehr körperliches Bild sinnlicher Wahrnehmung, das diesen Nachmittag einholt, ja vielleicht übertrifft. Mitternacht und Nachmittag, sie werden gleichsam zum sinnlichen Gegenüber des Zustands des Ichs, das sich erinnert, imaginiert, „und die Kirchtürme, wachsen wie Kolibris“. Eine Metapher, anlautend in der Übersetzung wie der „rote Mohn im Munde des Nachmittags“, in dem die „m“’s buchstäblich zu schmecken sind, während Kultur, Religion, phallische Assoziation und Natur zu einem wahrlich ekstatischen Bild im Sinne der leichten Ekstase amalgamieren.

Zuletzt noch ein weiterer Sprung in eines meiner wahrscheinlich am öftesten von Adam Zagajewski gelesenen Gedichte mit Titel „Das Zimmer“, das uns an den Arbeitsort des Dichters führt, nahe an die Produktion heran, in die magische Kammer gleichsam, in der gearbeitet wird und in der dem Warten ebenfalls Raum gegeben wird, und das man vielleicht auch als „Erwartung“ übersetzen könnte.     

Das Zimmer 

		Für Derek Walcott 

Das Zimmer, in dem ich arbeite, ist sechseckig 
wie ein Spielwürfel. 
Darin gibt’s einen Holztisch
von starrköpfigem bäurischem Umriß, 
einen trägen Sessel und ein Teekännchen
mit wulstiger Habsburgischer Lippe. 

(…)

Manchmal blitzt in der Ferne die Scheibe eines Autos auf

(…)

Das Zimmer, in dem ich arbeite, ist eine camera obscura. 
Was aber ist meine Arbeit - 
lange reglos warten, 
Zettel wenden, geduldig meditieren, eine 
Passivität, die dem Richter mit gierigem Blick 
nicht gefallen würde.
Ich schreibe so langsam, als hätte ich zweihundert Jahre zu leben. 
Ich suche Bilder, die es nicht gibt, 
und wenn es sie gibt, dann zusammengerollt und versteckt
wie der Sommeranzug im Winter, 
wenn Frost den Mund verletzt.
Ich träume von absoluter Konzentration; fände ich sie, 
hörte ich wohl auf zu atmen. 
Vielleicht ist es gut, daß mir so wenig gelingt.“

Man sollte sich dieser Worte erinnern. Und dem Blitz der Zagajewskischen Poesie nachspüren, der in der Sprache seiner Gedichte gespeichert ist und beim Lesen stets literarisch zu elektrisieren vermag. 

Der Gedichtband Die Wiesen von Burgund von Martin Zagajewski erschien in der Übersetzung aus dem Polnischen von Karl Dedecius im Carl Hanser Verlag, München 2003. 168 Seiten. Euro 18,50

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