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„Rinnt’s noch!?“

„Rinnt’s noch!?“

Christian Steinbacher über eine Nachdichtung aus dem Schi-King von Albert Ehrenstein

Nach und nach


Weit und luftig waren die Gemächer,		
Voll die Schreine, voll die Fächer, 
Hundert-, tausendfach.
Heute geht es schwächer, 
Geht es schwach.
Und ich zehr, ach, Ungemach.
Ach und ach, 
Daß es nicht so fortgegangen, 
Wie es schön hat angefangen.
Alles ist zergangen
Nach und nach.

Wo ich schmauste, standen nur vier Becher,
Saßen ich und noch drei Zecher
Bis zur Frühe wach. 
Heute rinnt es flächer, 
Rinnt es flach, 
Und ich trink allein am Bach.
Ach,
Freunde haben schnell sich fortgehoben, 
Alles ist zerstoben
Nach und nach.

„Rinnt’s noch!?“

Eine Form-Lektüre von Albert Ehrensteins Gedicht „Nach und nach“ aus dem Liederbuch Schi-King (mit einem Seitenblick auf Friedrich Rückerts Vorlage „Der Heruntergekommene“ [1])

Schnell bemerke ich ein Vorkommen gleicher Wörter in gleicher Position (und somit auch sogleich mein offensichtliches Vorankommen im Erfassen eines Gedichts). Das betrifft zentral auch den zur Gänze gleichen letzten Vers der beiden Strophen, der darüber hinaus den Titel gibt (wodurch das Gedicht zu einem von Beginn an angepeilt gewesenen Ende und auf diese Weise wohl auch zur Ruhe kommen kann). Deckungsgleiche Wörter beziehungsweise Wortfolgen in beiden Strophen finden sich zudem als Beginn von Vers 4 („Heute“), Vers 6 („Und ich“), Vers 7 („Ach“) und des vorletzten Verses („Alles ist zer[…]“). Bleiben wir vorerst beim letzten Vers: „Nach und nach“ vermittelt, dass etwas allmählich oder auch Schritt um Schritt in einen anderen Zustand gerät oder überführt wird, sei es in Richtung einer Auflösung oder in die eines Erstehens. In unserem Gedicht ist ersteres der Fall, ist dort doch von einem Zergehen beziehungsweise Zerstieben zu lesen. 

Cover des chinesischen Liederbuchs "Schi-King" in der Übersetzung von Albert Ehrenstein nach Friedrich Rückert im Verlag E. P. Tal & Co, 1922

Das Hintereinander der Schritte eines Vorgangs möchte ich nun (gleichsam nominalistisch gestimmt) damit zusammendenken, dass Vers für Vers mit einem eigenen Silben-Körbchen auftritt, das mit dem Vers, und dies eben nach und nach, auf die Bühne des Gedichts gebracht wird. Festzustellen ist, dass dabei die Anzahl der Silben nicht einfach linear vermehrt oder vermindert wird, sondern in Strophe I in den ersten sechs Versen und in Strophe II in den ersten sieben Versen die jeweiligen Vers-Längen ohne Wiederholungen in einem abwechslungsreichen Zickzack auftreten, und das in beiden Strophen auf dieselbe Weise: 

Auf 10 Silben folgen 8, dann 5, dann 6, dann 3 und dann 7 Silben (also zuerst um zwei und sodann um gleich drei weniger, danach wieder um eine mehr, daraufhin aber erneut um gleich drei weniger, und dann gar um ganze vier mehr). Im Vers 7 in Strophe I steht statt der isolierten Silbe „Ach“ des siebenten Verses der zweiten Strophe ein das Maß des fünften Verses wiederholendes „Ach und ach“. Der Vers 8 in Strophe II schließt sich kurz mit dem 10-Silber vom Beginn der Strophen, wogegen die Verse 8 und 9 in Strophe I jeweils einen 8-Silber wie in Vers 2 bieten. Diese beiden Verse verbinden sich bei einer Zusammenschau der beiden Strophen, da die darauffolgenden (die Strophe beendenden) Verse 10 und 11 in Strophe I der Struktur nach den (ebenso die Strophe beendenden) Versen 9 und 10 in Strophe II gleichen, was heißt, dass in Strophe II der Vers 8 den gemeinsamen Platz der Verse 8 und 9 der  Strophe I einnimmt. Der vorletzte Vers wiederholt das Silbenmaß von Vers 4 und der letzte das Silbenmaß von Vers 5. 6-Silber finden sich somit je zweimal (in Strophe I Vers 4 und Vers 10, in Strophe II Vers 4 und Vers 9), 10-Silber nur in Strophe II zweimal (Vers 1 und Vers 8), 8-Silber dagegen nur in Strophe I mehrfach, das dafür aber gleich dreimal (Vers 2, 8 und 9, wobei wie gesagt die zwei aufeinanderfolgenden Verse 8 und 9 im direkten Vergleich der beiden Strophen aber die Stelle von nur einem Vers innehaben). 5-, 6- und 7-Silber finden sich jeweils nur einmal. 3-Silber finden sich in Strophe I dreimal (Vers 5, 7 und 10), in Strophe II aber nur zweimal, da das „Ach und ach“ als Vers 7 der Strophe I in Strophe II zu dem 1-Silber „Ach“ verkürzt wird. Dieser nur in Strophe II vorzufindende 1-Silber ist auch insgesamt der einzige seiner Art, was dieses „Ach“ exponiert und ihm ein Gewicht verleiht, das auch für das ganze Gedicht ein Bedauern dessen, dass sich etwas Anfängliches nicht erhalten habe lassen, betonen lässt. (Und das doppelte Ach in Vers 7 in Strophe I (das als „Ach und ach“ den Schluss-Vers „Nach und nach“ und auch den Titel des Gedichts mit anspielt oder auch aufruft und dabei den schrittweisen Vorgang als Abfolge von Seufzern spiegelt) wird dort im Übrigen von einem weiteren „ach“ bereits angekündigt, das schon im Vers davor als Einschub unterbricht („Und ich zehr, ach, Ungemach.“).)

Strukturelle Parallelen in den beiden Strophen finden sich auch außerhalb der Wörter und Silben und Metren, so etwa in den verschränkten Reimfolgen (Folgen aus „‑mächer“, „Fächer“ und „schwächer“, aus „fach“, „schwach“, „‑mach“, „ach“ und „nach“ und aus „‑gangen“, „‑fangen“ und nochmals „‑gangen“ in I sowie Folgen aus „Becher“, „Zecher“, „flächer“, aus „wach“, „flach“, „Bach“, „Ach“ und „nach“ und aus „‑hoben“ und „‑stoben“ in II), den Vorsilben oder der Syntax. Letzteres betrifft insbesondere ­auch die Verwendung der Zeiten: Auf drei Verse in einem die Vergangenheit aufrufenden Imperfekt wird in Vers 4 für drei weitere Verse ins Präsens gewechselt, und das markant einsetzend mit einem neuen Satz, der die Situation klärend mit dem Wort „Heute“ eröffnet, und mit Vers 7 schließlich ins Perfekt, was das Vergangene als längst abgeschlossen betonen lässt. Auch ein unterschiedliches Vorkommen eines „ich“ lässt sich herausstellen, findet sich doch in Strophe II ein Ich schon in der erinnerten Situation der ersten drei Verse, während ein Ich in Strophe I erst in Vers 6, also dem dritten der drei Verse der Gegenwart, zum Einsatz kommt. Oder so: Auch in Strophe II gehen bei den drei der Jetztzeit zugewiesenen Versen dem Auftritt des „ich“ zwei unpersönliche „es“ voran, doch wird das „ich“ in Strophe II schon in der erinnerten Situation der ersten drei Verse, die in Strophe I noch keine Personen aufrufen, ausgespielt, und das gleich dreimal: als „ich“, als „mich“ und als „ich und noch drei Zecher“, dementgegen das „ich“ des mit „Heute“ beginnenden Satzes in Strophe II mit einem das einstige gemeinsame Sein kontrastierenden „allein“ gefasst wird. (Und die Gegenüberstellung in Strophe I lief weniger auf ein Nur-noch-Alleinsein hin, sondern auf ein den einstigen Fächern entgegengehaltenes Mangeln, wobei dort durch den „ach“-Einschub nicht ganz klar wird, ob das „zehr“ intransitiv oder transitiv gesetzt ist.)

Titelblatt des chinesischen Liederbuchs "Schi-King" in der Übersetzung von Albert Ehrenstein nach Friedrich Rückert im Verlag E. P. Tal & Co, 1922

Ein Ungemach zu zehren ist in der Sprache eines dem Expressionismus zuzurechnenden Autors ebenso denkbar wie ein objektfreies Zehren für sich. Das unterbrechende „ach“ dürfte das „zehr“ eher verselbständigen und das nachfolgende Ungemach zu einer der ganzen Situation des Zehrens nachgerufenen Ergänzung eines Ausrufs machen, der dann nach dem Punkt eigens nochmals als „Ach und ach“ ansetzt. Die Aufsplittung in einzelne Sätze gilt aber nicht grundlegend. Denn in Strophe II wird nach dem von der Position her gleichen „flach“ der Folge-Vers mit Komma angebunden. (Wegen der Bild-Nähe von „rinnt“ und „Bach“? Was ein anderes Weiterführen möglich machte als der Sprung von „schwach“ zu „zehr“?)

Das Wort Ungemach, nach den Gebrüdern Grimm ein auf Grund seiner Bedeutungsvielfalt „unerschöpfliches Wort“, wird laut Wikipedia-Eintrag als verstärkte Negation des privaten Wohnraums gefasst. Und selbstverständlich kann man sich auch in „Gemächer“, die „Weit und luftig“, deren Fächer jedoch hundertfach voll sind, zurückziehen. Durch den Plural wird neben dem Aspekt der Rückzugsmöglichkeit aber auch der einer Weitläufigkeit aufgerufen, die an ein größeres Gebäude, wohl gar an ein Schloss denken lässt, was dann möglicherweise auch eine gehörige Portion Opulenz oder gar Prunk mit wachruft, auf dass uns die Gänge zwischen den Räumen um nichts weniger weitläufig geraten,  ja womöglich schritten wir dort sogar Kordeln entlang, die verhinderten, dass man in direkten Kontakt mit den Bildern an der Wand kommt, und die Türklinken blitzten dann noch immer oder schon wieder und prangten also nicht mehr mit jenen altehrwürdigen Altersflecken an Metallen, denen wir im Sinne eines gedoppelten „Gemach, gemach!“-Ausrufs nun aber gleichfalls das Wort erteilen möchten zu unser aller Entschleunigung, sodass auch diesem kleinen Ausrutscher hier bitte Einhalt geboten werden kann. Denn waren die Fächer dort zwar voll wie die Schreine, setzt das zweite dieser beiden Wörter keineswegs in erster Linie auf Fülle, sondern auf Kostbarkeit. Und ein Rückblick auf starke Zeiten, mit denen wir weite Räume bespielten, bleibt das allemal, und selbst dann, wenn „luftig“ zum Substitut von „breit“ wird, sobald wir als wohlgeübte Sprach-Narren in so einem Beginn die feststehende Wendung „weit und breit“ unterlegt sehen wollen.

Nun aber weiter voran in der Analyse: Die Ersetzung von Vers 8 und 9 der Strophe I durch einen einzelnen Vers 8 in Strophe II verdankt sich wohl auch der Länge dieses achten Verses. Diese ist beachtenswert hinsichtlich des Zeilenfalls, da als Vers nicht wie in der ersten Strophe ein 3-Silber vorangeht, sondern der 1-Silber „Ach“, sodass der 10-Silber unmittelbar auf den 1-Silber folgt. Dieser eklatante (und auch optisch krasse) Bruch kann als Verkörperung eines Zerberstens wirken und dadurch mit dem in Strophe II konstatierten Zustand des nur noch „Zerstobenen“ kollidieren. Wird das ein Spiel bloß von Gegenüberstellungen selbst hier, wirft da nun jemand ein, doch lassen wir uns davon nicht beirren und setzen mit der Bemerkung fort, dass in Strophe I, die diesen eklatanten Bruch nicht aufweist, zum Schluss „alles“ eben nicht mit „zerstoben“, sondern mit „zergangen“ ergänzt wird. Das aber hat seinen Grund gleichermaßen im Reimspiel wie im Sujet beziehungsweise Bild (und Dichtung geht ja mal von dort, mal von da aus, und das, was dabei entsteht, ergibt dann oft auf beiden Wegen Stimmigkeit). Es wird nicht nur „fortgehoben“ bereits vorm „zerstoben“, sondern es sind die Freunde, die sich fortgehoben (und sich in diesem Fortheben entfernt) haben, sodass also ausgerechnet das gemeinsame Heben der Becher, was ja Ausdruck einer geselligen Gegenwärtigkeit ist, zu einem Fort-Heben als Weg-Heben wird. (Das „fort“ in „nicht so fortgegangen“ in Strophe I dagegen ist im Sinne eines Fortan und eines anhaltenden Immer-weiter gesetzt.)

„Heute“ bringt vorerst einen Komparativ ins Spiel, der sogleich zur Grundform verkürzt wird. In der ersten Strophe vollzieht sich das über ein sich auf die erinnerte Situation beziehendes „schwächer“, das dann aus dem Vergleich gelöst nur noch als „schwach“ gefasst wird, und in der zweiten Strophe über ein vorerst noch vergleichendes „flächer“ (als reimbedingte Abart von „flacher“), das dann als „flach“ endet. Es wird also jeweils aus einer Ebene des Vergleichs mit dem Vergangenen in die nur gegenwärtige und somit blanke Feststellung ausgetreten und so das Jetzt und Heute betont und als solches abgesetzt. Ergänzt werden „schwächer“ und „schwach“ dabei von „geht es“, „flächer“ und „flach“ von „rinnt es“. „rinnt es“ ließe über das Anspielen des flüssigen Elements zwar auf das „zergangen“ in der anderen, der ersten Strophe denken, doch läuft die Bildsetzung in Strophe II entgegen dieser bedachten Verflüssigung in „zerstoben“ aus. Ist der „gehobene“ Becher der Grund? Auch wenn man sich für gewöhnlich weder her- noch fort-hebt, hätten sich die fortgehoben, die das Heben, wenn auch das der Trinkgefäße, pflegten. Und die Vorstellung eines ausgerechnet flachen Rinnens (welche Art Bild auch immer das dann hervorruft) gibt ebenfalls einen Gegenpol zum Heben. Dem Rinnen umgehend nachgesetzt wird das Alleinsein beim Trinken am Bach (der wieder zum Flüssigen passt wie auch der Becher, das heißt eine bildliche Reibung entsteht hier eher zwischen flach und heben), und umgehend meint hier, dass hier kein Punkt eine Zäsur setzt, wie an der betreffenden Stelle in Strophe I, wo ja vor dem Zehren und dem Ungemach vorerst ein Punkt kurz anhalten ließ (doch meldete sich dort erstmals das Ich, was eben einen eigenen Einsatz verlangt). Nach dem „Ach und ach“ in Strophe I drängt das Textgeschehen zwei Verse lang weiter bis zu einem Punkt, bevor die beschließende Konstatierung mit eben diesem Punkt abgesetzt wird, wogegen nach dem „Ach“ in Strophe II die Feststellung der sich fortgehoben Habenden in eine drängende Bewegung weiterläuft, die dann bis zum Schluss keine weitere Punkt-markierte Zäsur benötigt. Liegt der Grund dafür, dass sich die Verse 7 bis 10 in Strophe II in einem gemeinsamen Satz bewegen, nun eher darin, dass bei den Versen mit weiblichen Reimen im zweiten Teil der Strophe II nur zwei (statt der drei in Strophe I) aufeinanderfolgen, oder eher darin, dass dort das „Ach“ allein einen ganzen Vers gibt, sodass der erwähnte Bruch durch das Unterlassen von Punkten eingefangen werden muss? Derartige Fragen beleben ein Betrachten, geben dem Grübeln aber keine Aussicht. Nochmals daher das zu Bedenkende in leicht anderen Worten: In I folgen auf das „Ach und ach“ Vers 8 und 9 und schließen mit einem Punkt nach „angefangen“, und erst dann setzt der konstatierende Satz mit „Alles“ neu ein. In II dagegen steht ein Komma nach dem 10- Zeiler („fortgehoben“), es geht also unmittelbar (und also flüssig! weiterlesend) weiter in die beschließende Erkenntnis des „Alles ist […]“.

Positionen? Betrachte bitte Vers 4 und 5 in Strophe I und II unter der Herausstreichung des folgenden Gerüsts: „Heute […]t es […]ächer, / […]t es […]ach.“ Wie man sieht, bleibt teils nur die Position gleich, teils ist es auch das Wort. Denn der Einsatz „Heute“ bleibt ganz ebenso wie die beiden „es“. „schwächer“ und „schwach“ werden dagegen in Strophe II durch „flächer“ und „flach“ ersetzt, wobei immerhin in den Vokalen kein Wechsel erfolgt. Anders das zweimalige „geht“, das zu einem zweimaligen „rinnt“ wird, was gerade wegen des Vokalwechsels in der von der Position her gleichen Stelle noch mehr den Unterschied hervorheben kann. 

Das nicht an Personen festgemachte „fortgegangen“ in Strophe I fungiert wie gesagt im Sinne eines Fortlaufs, also eines Beibehaltens, wogegen das „fortgehoben“ das Wegkommen von etwas, das Wegtreten, die Veränderung anzielt. Ist anzunehmen, dass vom Dichter zuerst „zerstoben“ gewählt wurde, und dann erst „fortgehoben“ (als Reim-Wort)? Und verhält sich das dann ebenso bei „zergangen“, dem „fortgegangen“ vorgestanden ist? (Der Auswuchs in der ersten Strophe zeigt neben den Reimspielen auch folgende Finesse: In „fortgegangen“ wird „gegangen“ um ein zweites Präfix erweitert, wogegen bei „zergangen“ das Präfix „zer“ das Präfix „ge“ ersetzt. Weggeschmolzen wie Schnee, denke ich, und da passt dann auch der Konsonantenwechsel von „gangen“ zu „fangen“, wandert so doch das f in dem Schmelzprozess nach hinten: „fort“ wird durch „an“ ersetzt, gibt dafür aber sein f nach hinten, wo „gangen“ zu „fangen“ wird.)

Faksimile des von Friedrich Rückert übersetzten Gedichts "Der Heruntergekommene" aus dem Schi-King

Bis hierher haben wir noch keinen Blick auf die Rückert‘sche Vorlage geworfen, die nun für einen Vergleich noch ins Spiel gebracht sein soll. Im Nachwort zu seiner Auswahl von Gedichten aus dem Schi-King schreibt Ehrenstein: „Die gelben Lieder waren für den Gesang bestimmt, reich an Variationen, Wiederholungen, Refrain. Sie hatten keinen Rhythmus, aber fast immer Reim.“ In manchen Gedichten Friedrich Rückerts ortet er „virtuoses Reimgeklingel und eine der Knappheit des Urtextes entgegengesetzte Geschwätzigkeit“.  

See Also


     Und er notiert: „Ich bemühte mich, den von mir erwählten hundert Gedichten durch Kürzungen, lebendigeren Rhythmus, Entfernung sinnstörender Zutaten, Umbau, in vielen Fällen durch Neudichtung etwas von der sinnlicheren Unmittelbarkeit der ersten Schöpfung wiederzugeben.“ Ob das gelang, dem soll hier nicht eigens nachgegangen sein, wesentliche Unterschiede in Ehrensteins „Nach und nach“ und Rückerts „Der Heruntergekommene“ seien aber festgehalten. Ohne Berücksichtigung der Differenzen bei den Apostrophierungen und Elidierungen lassen sich insbesondere folgende Änderungen feststellen: Der Vers 2 in Strophe I wird umgeschrieben in eine andere Konstruktion, die das Wort „voll“ zweimal verwendet (und dadurch das Liedhafte noch mehr betont: Rückert: „Voll die Schrein’ und Fächer“, Ehrenstein: „Voll die Schreine, voll die Fächer“). 

Nach „Geht es schwach“ steht bei Rückert ein Komma, das bei Ehrenstein zum Punkt wird. Ehrenstein zerlegt mehr, bringt ein über das strenge Korsett hinausgehendes Modulieren ins Spiel. Und er zerlegt den Text mehr in ein „nach und nach“ (die Möglichkeit zu so einer zerlegenden Bearbeitung ist ihm aber eben auch durch den Bezugspunkt einer Vorlage gegeben). Das „am“ vor „Ungemach“ verschwindet, um einem zusätzlichen „ach“ Platz zu machen (wozu hier schon weiter oben Überlegungen in Bezug auf das „zehrt“ gesetzt wurden, die sich im Wissen um die Vorlage wie auch manch andere immanente Überlegungen relativieren). Insgesamt wird ein anderes Tempo der Bewegung angeschlagen, und von daher auch eine etwas andere Situation, und auch daher rührt dann wohl der Punkt statt des Kommas. 

     Der letzte Vers Rückerts wird von Ehrenstein in zwei Verse gesplittet, und diese Splittung dürfte das beschließende „nach und nach“ auch sprachlich darstellen. Zudem wird das Partizip dadurch in eine betonte Endstellung gebracht, sodass die beiden nun die vorletzte Zeile beendenden Partizipien als kontrastierende Variation in einen Dialog treten können.

     Rückerts „saßen mir drey Zecher“ als Vers 2 der Strophe II wird zu „Saßen ich und noch drei Zecher“. Rückert variiert in seinem Gedicht dort „standen mir“ aus Vers 1 zu „Saßen mir“ in Vers 2.  Ehrenstein bringt in seiner leicht gestelzten Formulierung kein „mir“, sondern ein „ich“, welches die drei anderen ergänzen lässt, in die Runde der Zecher ein. Und diese Erweiterung ist wohl verantwortlich auch dafür, dass er die 6 Silben bei Rückert zu 8 Silben erweitert, was wiederum verantwortlich dafür ist, dass er im Sinne einer parallelen Bespielung auch den Vers 2 der Strophe I erweitern muss, was ihn wiederum zu einer doppelten Verwendung des „voll die“ dort bewegt.

     „All in Freuden wach“ klingt für den später Geborenen wohl etwas seltsam. Der Austausch des „All in Freuden“ mit „Bis zur Frühe“ verdankt sich nicht nur dem dazugekommenen „ich“, sondern auch einer vorstellbareren Situation, „Bis zur Frühe“ ist nicht nur Epitheton, sondern fast konkret als Hinweis auf einen intensiven nächtlichen Umtrunk.

     „Ach und ach“ wird bei Rückert nicht verkürzt! Hier ist bei Ehrenstein eine Verlebendigung angesagt. Selbstredend sind auch diese Verlebendigungsversuche zugleich kunstfertige Eingriffe. Auf der Seite der Produktion geht es hier wie gesagt aber auch immer wieder um Situationen, für die von etwas schon Vorhandenem ausgegangen werden kann. 

     Bei Rückert findet in Strophe II keine Kontraktion der Verse 8 und 9 zu einem einzigen Vers statt, sondern das Schema der ersten Strophe wird an der Stelle ungebrochen in die Strophe II übernommen. Statt des Ehrenstein’schen Verses mit dem Ende „fortgehoben“ findet sich dort also ein Vers-Doppel, endend im ersten Vers mit „nach oben“ und im zweiten mit „angehoben“. Das Gerüst des Vers-Doppels aus Strophe I kommt bei Rückert in Strophe II also voll nochmals zum Zug, und das betrifft auch die Vers-Enden, die an der Stelle in Strophe I zuerst „fort gegangen“ und dann „angefangen“ ausspielen, und in Strophe II zuerst „fort nach oben“ und dann „angehoben“. Kein Wort mit „an-“ schiebt sich dagegen bei Ehrenstein zwischen „fort-“ und „zer-“. Es gibt dafür dort aber auch die eine Zeile weniger (und den sich dadurch ergebenden Bruch). Das Weglassen eines Verses geschieht nicht nur aus Gründen der Darstellung einer etwas anderen Bewegung, sondern auch, weil das „nach oben“, auf das hin Rückert den ersten Vers des letzten Reimpaars ausrichtet und gestaltet („Daß es nicht so fort nach oben / Gieng, als wie es angehoben“), inzwischen ein anderes (oder gar obsolet) geworden ist, da ja von Ehrenstein nicht mehr ein „hoch“, sondern ein „schön“ zum Bezugspunkt der Rückschau gewählt worden ist.

Albert EhrensteinNach und nach“, in: Schi-King. Das Liederbuch Chinas, Leipzig, Wien, Zürich: E. P. Tal & Co. 1922. Zitiert aus: Werke, herausgegeben von Hanni Mittelmann, Band 3/1 (Chinesische Dichtungen: Lyrik), Berlin: Klaus Boer Verlag 1995, S. 68. [Der Band ist nach wie vor über den Wallstein Verlag erhältlich.]


[1] In: Schi-King. Chinesisches Liederbuch, gesammelt von Confucius, dem Deutschen angeeignet von Friedrich Rückert, Altona: J. F. Hammerich 1833, S. 144 

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