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Die Mooskugel rollt mit

Die Mooskugel rollt mit

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Barbara Pumhösel liest Linda Vilhjálmsdóttirs Lyrikband
das kleingedruckte

das kleingedruckte von Linda Vilhjálmsdóttir fällt mir ins Auge, als ich das Verlagsprogramm studiere, um Monika Vasiks Knochenblüten zu bestellen. In meinem Kopf tauchen die gängigen Assoziationen zum Titel auf. In Beipacktexten und Verträgen lädt diese Form zum Überfliegen oder gar zum Nichtlesen ein. Leicht zu übersehen und meistens unterschätzt, wie so oft, Verse und berufliche und private Aussagen im Alltag von Frauen einst und jetzt. Ein anderer Lyrikband der Autorin heißt: Die schönen Worte. Automatisch kommt die Frage: Was ist schön? Inhalt oder Oberfläche? Oder nichts? Ironie? Groteske? Lyrik ist, unter anderem, eine Sinn- und Soundschaukel. Ist hier die Form – das schöne Wort, kleingedruckt vielleicht – der erste Stoß, der die Schaukel zum Schwingen bringt?

Auf jeden Fall, der Koffer ist zu schnell gepackt worden, es hätten noch einige Bücher mitreisen sollen. Mit den Zügen dieses Jahr gibt es jede Menge Hindernisse. Florenz – Wien war früher nie ein Problem. Diesmal sind die Züge überfüllt, verspätet, nicht buchbar, die Klimaanlagen fallen aus (das Öffnen der Fenster – Fahrtwind, ein bisschen Sauerstoff – wurde bereits bei der Planung der Wagons ausgeschlossen).

Um 7:15 Uhr schlage ich das Buch in Salzburg auf (Seite 23):

ich lasse mir das nicht länger gefallen
sage ich gerne laut ein um das andere mal 

Es ist Linda Vilhjálmsdóttirs siebter Lyrikband. Ein Buch voller weiblicher Revolutionskantaten, lese ich unter anderem auf der Umschlagklappe. Die Autorin schreibt über sich, über Vorfahren und Bergfrauen– über Frauen in Vergangenheit und Gegenwart, über Rollenbilder von Mann und Frau, damals wie heute. 15. August, Ferragosto und Marienfeiertag: ich sitze in einer leeren Westbahn (Nicht reservieren wegen der großen Verspätungen, und nicht ohne Reservierung in einen ÖBB-Zug einsteigen, Achtung Umwelttickets, wurde ich gewarnt, es wird nicht mehr auf den Anschlusszug Rücksicht genommen.) und warte auf die Abfahrt in Richtung Erlauftal (über Amstetten).

manchmal fühle ich mich
wie ein hering in der tonne

[…]

und manchmal
wie eine einsame mooskugel
[…]

Die Mooskugel auf Seite 47 hat es mir angetan. Es gibt hier eine interessante Anmerkung:

Die Mooskugel (Aegagropila linnaei), auch Algenkugel genannt (in Isländisch: 
kúluskítur = Kugelmist), ist eine häufig als freitreibende Kugel auftretende 
Grünalge. In der nördlichen Hemisphäre kommt sie nur in wenigen Seen vor,
hat jedoch in dem See Mývatn in Island ein so hohes Aufkommen, dass sie 
als schädlich für die Qualität des Wassers angesehen wird. (Seite 104)

Zur „fjallkonan“, der Bergfrau, ebenfalls. Von ihr komme ich direkt auf die Übersetzer, lese ihre Biographien, als wären es Donausagen. Die Namen der ÜbersetzerInnen machen mich immer neugierig, sie stellen Verbindungen her, wo es vorher keine gab, legen bereits vorhandene frei, bessern Konstruktionsfehler an schon gebauten Brücken aus – sie erlauben Entdeckungen. „Aus dem Isländischen übertragen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer“ steht auf dem Cover. Das ist ein Pluspunkt für den Verlag. Es ist ihre Wortwahl, mit der ich mich den Texten der Lyrikerin nähere.

Die Ortsschilder draußen schlagen Illustrationen vor zu den Wortbildern: Grünau, Almsee. In meiner Erinnerung tauchen ein kleiner und ein größerer Ödsee auf. Und am Fenster Grünschattierungen, die ich seit dem Frühling nicht mehr sehe.

© Barbara Pumhösel

Ich blättere zurück zum Anfang und beginne von vorne. Es ist viel Weiß um die Gedichte, zwischen den zweizeiligen Strophen. Manche Pausen sind wie Gebirgsspalten. Man/frau riskiert zu fallen. In ein gespanntes Bildernetz, kurz vor dem Aufprall. In andere Zeiten, mit Wörtern wie “erbsünde” und “lockenwickler”, bei denen auch ich als Kind zwischen Abstraktion, Vorstellung und konkreter sensorieller Perzeptionserfahrung schwankte. Das “kleid aus vorhangstoff” weckt Erinnerungen in den Fingerkuppen. Kurz vor dem Aussteigen. Ich hätte das Buch auf dem Platz neben mir fotografieren sollen. Aber nun ist es zu spät.


Das Cover-Foto muss nachgestellt werden. Ich bin am Fluss, an der Erlauf. Zwischen Sölling und Purgstall. “Paradies” wurde dieser Ort vor langer Zeit genannt, als er einigen manchmal am Vormittag das Klassenzimmer ersetzte. Ich lese, will schwimmen und später fotografieren (Seite 17):

dass ich im geist tausend mal tausend
bittersüße gedichte geschrieben habe

um ein für alle
mal zu beweisen
dass ich eine ziemlich gute dichterin bin 

Die Sprache ist lakonisch, nüchtern, reiner Alltag scheinbar, der keine kunstvollen Metaphernkonstruktionen bemühen will – die poetischen Figuren sind unterschwellig, aber wirkungsvoll. Enjambements spielen mit Erwartung und Überraschung, setzen spannungsgeladene Pausen (Seite 27):

und danach erzählte man uns die geschichte

von der missratenen martha
die sich sorgte und mühte während ihre schwester

maria beständig dem vater
dem sohn und dem heiligen geist nachlief 

Aus dem Foto wird wieder nichts. Kaum bin ich aus dem Wasser, ziehen schwarze Wolken auf, sie sind schneller als ich. Der Sturm bläst mir Sand und Staub ins Gesicht. Ich schaffe gerade noch, bevor es davonfliegt, das Buch im Rucksack zu verstauen. Lasse das Fahrrad stehen und nehme dankend eine Mitfahrgelegenheit im Auto an. Regen. Dann Hagel. Fotografieren werde ich später, woanders, bei leichtem Regen. Es ist die letzte Möglichkeit. Am Abend muss ich wieder einen Zug nehmen.

© Barbara Pumhösel

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Während ich mich umsehe nach einer geeigneten „Location“, ist plötzlich eine Melodie da, transportiert eine Verszeile, den Anfang eines bekannten Spirituals: „Sometimes I feel like a motherless child“. Der erste Teil wiederholt sich hie und da, in der einen Sprache oder in der anderen, in einem Gedicht, einem Song. Nichts Neues, wir haben das Original im Ohr – aber wie Linda Vilhjálmsdóttir dieses Material einsetzt, ist einzigartig: sie jongliert mit den Vergleichen, verwandelt dabei die einzelnen Bewegungen in metaphorische Faustschläge, beiläufig und zielsicher.


Linda Vilhjálmsdóttir *1958 in Reykjavík, Island. 1990 erschien mit Bláþráður (Blaufaden) ihr erster Gedichtband, der ihr zunächst in Island, bald jedoch auch international große Anerkennung einbrachte. Sie schrieb mehrere Gedichtbände, Theaterstücke und einen autobiografischen Roman. Viele ihrer Gedichte sind auch in deutschsprachiger Übersetzung erschienen.

Cover von Cover von Linda Vilhjálmsdóttirs "das kleingedruckte" aus dem Elif Verlag, 2021.

Linda Vilhjálmsdóttir: das kleingedruckte. Elif Verlag, 2021. 110 Seiten, Euro 20,00

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