Gertrude Maria Grossegger liest Udo Kawassers
Gedichtband die blaue reise. donau – bosporus
im sinn nichts als die reise meine reise ins blaue und im gepäck das buch die blaue reise leicht und gewichtig ist es von meinem lieblingsblau umhüllt frosch granatapfel kamm machen es sich auf ihm gemütlich und das notizheftchen pack ich ein mit ein paar wenigen vollgeschriebenen seiten in rot granatapfelrot komm mein blau zieht dich komm flüstert die blaue reise setzt das granatapfelkrönchen auf den frosch schon reden alle sich zu spricht der kamm mit dem frosch der frosch mit dem krönchen das krönchen mit dem kamm und der granatapfel öffnet sich und lässt seine kerne spritzen im weiten werden sie schwankendes boot oder weiden am uferrand verbreiten sich unfassabar und schnell pflücken schwere feigen werden blicke stürzen in die aufgeplatzte frucht werden bild ohne rahmen

und wer rahmt die bilder sodass sie still in uns stehen auslaufend ist das rot der granatapfelkerne wie das schiff das den hafen verlässt sich trennen muss von ihm es muss los es darf kann soll will wie ist das mit den modalverben das verb dieses verb das die welt moduliert und doch nur eine krücke ist im verzweigten system meiner sprachwelt die nach freiheit schreit einer freiheit die mir über die blaue reise geschenkt wird als blauer anker für hoffnung dass fragen nicht aufhören dass der hunger nie gestillt sich zum nächsten und weiteren nächsten hantelt zeile um zeile seite um seite in einem zug reise ich durch das buch
und dann schlafe ich ein unter dem feigenbaum das buch auf meiner brust sind plötzlich fische da im traum ein schwarm und dann gezwitscher aufgeregtes am frühen abend ober mir alpensegler so laut dass sie mich aufwecken und so hoch fliegen sie und dann stürzen sie sich in die tiefe was für segler windakrobaten sagt mein begleiter oh, it’s such a perfect day höre ich lou reed singen wie damals an einem samstag 20. februar 2021 nachtbilder hörend beinahe schon in den schlaf sinkend werde ich wachgerüttelt suche panisch nach stift und papier schnell muss es gehen so landen ein paar verse in diesem damals noch frischen notizheftchen in rot kritzle so schnell ich kann die gedichte machen mich munter kann sieben tage nachhören denke ich das tröstet aber ich möchte sie jetzt erfassen krieche in die gedichte hinein und schreibe mit so gut es geht notiere ins granatapfelrote notizbuch die blaue reise zieht mich und erst nach einer weile höre ich über die unverkennbare stimme von nikolaus scholz wie traurig dass er nicht mehr da ist den namen udo kawasser und was für eine überraschung er trägt das wasser im namen mein element das auch seines ist das unser aller element ist ohne das unser leben unvorstellbar wäre und ich frage mich die an einem bach aufgewachsen ist das rauschen im ohr nächtens bei offenem fenster das wildwasser bis ins bett vernehmend in beinah jeden traum das wasser miteinwebend wie es für mich überhaupt ohne wassernähe auszuhalten ist wie ich überhaupt an einem ort leben kann wo kein fluss oder see oder teich vorhanden ist mindestens drei kilometer muss ich mich von zuhause wegbewegen sage ich meiner inneren stimme um an ein wasser zu kommen aber immerhin diese distanz ist bewältigbar aber im nächsten leben ziehe ich nie mehr so weit fort vom wasser sage ich meiner inneren stimme und vielleicht werde ich auch gar nicht so lange warten sage ich ihr auch noch das blaue buch auf meinem blauen badetuch betrachtend nun sind wir am strand gelandet sage ich die blaue reise das granatapfelrote notizbuch mein begleiter und ich suche nach den vor mehr als einem jahr mitgekritzelten textstellen und schreibe die seiten dazu diese nacht nahm der himmel zweimal den hut ab (seite 15) schlag mit den flügeln dass unsere bäuche riechen (seite 17) durch die nacht könnte ein dampfer kommen und milch aus runden augen fließen (seite 21) kann / der frühling nun beginnen (seite 43) über schalen vasen schnabel kannen und verfange mich in ranken […] da stolpere ich über das wort tulipane die rot gekelchten zungen der osmanen […] brechen kacheln aus unserer nacht (seite 61) aber stehst du denn in der richtung in die ich schaue oder fliegen die vögel nun mit den schwänzen voran aufs meer hinaus sind wir wieder am anfang unserer reise wieviele leben willst du noch leben […] schlafen ist jetzt das einzige atmen (seite 77) warum schenkst du mir ein kleid durch das ich mich selbst sehen kann fragt das eine lyrische ich ich erzähle nicht erzählen heißt immer einen punkt machen sagt das andere lyrische ich und es spricht mir aus der seele so wenig punkte in deinem manuskript sagt mir mein begleiter als er es mir nicht ganz zu ende gelesen wieder übergibt und ich sage zu ihm es regnet viel in den gedichten seite 12 regnet es noch immer regnete es unter den dächern erklär mir wien oder der regen spült mich fort von hier seite 13 regnet es ganze zeilen verregneten auf den feldern und all die holunderfragen am wegrand stehen in lachen und weiter unten im selben gedicht regnet es noch immer: trotz regen begann ganz istanbul zu tanzen seite 21 regnet es es regnet für alle auch für die türken in dieser stadt […] denn seit wochen regnet es hier einen schweren traum und seite 23 regnet es mit dem regen kommt die donau zu mir […] will mit deinen ohrringen im regen laufen durch tropfen in denen wir geschwommen sind und dennoch die gedichte machen mich nicht trauriger als ich schon bin sie machen meine tief liegende traurigkeit lebendig und sie tun dies auf einfühlsame weise indem sie mich nicht im regen stehen lassen die gedichte lassen mich in sie hineinschlüpfen und dort kann ich geschützt aus den fenstern lugen die sie reichlich eingebaut haben luken sind es wo licht hereinkommt oder dehnbare türchen die so elastisch sind dass sie viel raum geben wenn ich es möchte und die dann wieder sich zusammenziehend mich einbetten wenn ich es möchte die gedichte lassen mich an sie schmiegen ich rieche minze melisse rosmarin sie sind lebendig frisch und kühl und ich fühle ihre kraft bin geborgen sie engen mich nicht ein sie machen mich weit und manchmal genügt der fensterblick durch die wässrigen scheiben da auf die donau und dort auf den bosporus um freiheit zu spüren und sehnsucht donau bosporus donau bosporus donau bosporus sage ich abwechselnd wie ein mantra laut vor mich hin bin ins o gebettet von der donau und vom bosporus bin im flussbett von donau bin im meerengen bosporusbett gehe mit dem u am ende mit nach oben auf deren wasseroberflächen die mich tragen mitten hinein ins nächste gedicht in das zwiesprachige der beiden füreinander bestimmten und sich anziehenden und doch so weit entfernten wesen da an der donau und dort am bosporus sich näher kommend im sich voneinander entfernen so scheint mir strecken sie ihre fühler dehnen sie sich dem anderen entgegen berühren sich gehen sie über hindernisse hinweg in das eigene ich das andere ich in sich fließen sie zusammen werden sie donau und bosporus in einem werden sie fluss

Udo Kawasser: die blaue reise. donau – bosporus. Innsbruck-Wien, 2020, 96 Seiten, Euro 15,-