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Momentaufnahmen

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Klaus Ebner liest Martina Jakobsons Hier biegen wir ab


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Wege sind bekanntermaßen verschlungen und führen über zahlreiche Kreuzungen. Oft wird abgebogen, entweder gewollt, weil eine andere Straße verheißungsvoller wirkt, oder gezwungenermaßen, weil nur das Abbiegen die Weiterfahrt ermöglicht. „Hier biegen wir ab“ heißt der Lyrikband von Martina Jakobson, die 1966 in Berlin geboren wurde und in Ost-Berlin und Moskau aufwuchs. Sie ist Kulturvermittlerin, Pädagogin und Literaturübersetzerin aus dem Russischen, Weißrussischen und Französischen. Seit mehreren Jahren lebt sie in Wien und im Südburgenland – daher auch ihr Konnex zu burgenländischen Landschaften, wie sie etwa im Gedicht „Der Spätsommer entzündet“ durchblicken:

Cover © Edition lex liszt 12

Die Lichterketten der Trauben
zwischen den Reihen
Heurigentische mit Bänken
für Feste
Trinkgelage
mit Gästen
Kindern
Fremden
in den Gläsern
Serpentin

Der Lyrikband erschien in der Oberwarter edition lex liszt 12 als broschiertes Buch. Der burgenländische Kunstfotograf David Schermann hat das Coverbild gestaltet. Es zeigt eine verfremdete Nebellandschaft, die im Übrigen auch den Umschlag des aktuellen Kataloges der edition lex liszt 12 ziert.
Viele der enthaltenen Texte strahlen eine tiefe Ruhe aus. Betrachtungen der Natur und der Jahreszeiten, Einkehr und hie und da ein überaus gelungenes Wortspiel:

Pfeile schwärmen durch die Luft
wir biegen uns vor Lachen
da haben wir den Bogen wohl überspannt

Im Burgenland mag die Autorin ihre Ruhe gefunden haben, doch das östlichste österreichische Bundesland ist keineswegs die einzige Landschaft, die ihre literarischen Spuren hinterlässt. Der Lebensweg von Martina Jakobson und ihre Sprachkontakte lassen sie auch in anderen Ländern quasi „daheim“ sein, aus Erinnerungen schöpfen und mit aktuellen politischen Ereignissen mitfühlen. Das Gedicht „Zärtliche Antike“ spielt auf das Erdbeben bei Zagreb 2020 an und „Schrecken der Gewitter und der Gleichzeitigkeit“ auf die brutale Niederschlagung der Proteste infolge des gefälschten Wahlergebnisses in Weißrussland im selben Jahr. Es sind kurze Momentaufnahmen und keine Chroniken, und doch schafft Jakobson es mit wenigen eindringlichen Versen, Betroffenheit zu erzeugen.

Der Krieg

Am deutlichsten wird dies spürbar in drei Gedichten, die sich direkt auf den russländischen Vernichtungskrieg in der Ukraine beziehen. Den Propagandakniff, den Krieg lediglich als „Spezialoperation“ zu bezeichnen, vergleicht die Autorin mit einer Verpackungsmethode. Natürlich kommt sie zum logischen Schluss: „wie du es auch benennst: Krieg ist Krieg / Blut klebt an den Händen“. Dem russischen Präsidenten widmet sie den zornigen Text „Rastloser Köter“:

treu gesinnt
scharf gemacht
Reißwolfzähne haben sie dir eingepflanzt
bis zum Meer reicht schon dein Jagdgebiet
Moskau Krim Odessa
wo Städte Dörfer Gärten mit Schaukeln standen
Weizenfelder in der Steppensonne brannten
Panzer Schutt Ruinen:
Köter, ich kenne dich
und dein Rudel vor dem Hauseingang
dieser Knochen hier – heißt Ukraine
Кiстка в горлi! In den Rachen!
Ersticke!

Die schrecklichen Bilder, die wir tagtäglich im TV sehen, erhalten durch diese Zeilen ein zusätzliches Gewicht, das sich eindrückt und nicht mehr verschwindet. Tatsachen, die uns womöglich ohnehin klar sind, wurden hier in eine literarische Form gebracht.

Die Flucht

Das Buch ist in drei Abschnitte unterteilt, von denen der erste der mit Abstand längste ist. Martina Jakobson geht sparsam mit Satzzeichen um, und sie verwendet meist sehr kurze Verse. Es ist das Wort, das sich einprägt und das ihrer Lyrik ihre Ruhe und Eindringlichkeit verleiht.

See Also

Der mittlere Abschnitt, „Luftige Momente“, enthält mehrere Gedichte, die inhaltlich zusammengehören und lediglich nummeriert sind. Die Pfähle, die in Weingärten den Reben als Stütze dienen, gemahnen entfernt an die Grenzpfosten des Eisernen Vorhangs. Es ist ein Schlauchboot, das im lyrischen Ich oder in der Autorin Erinnerungen an den Großvater in der Sowjetunion auslöst und dann zu den oft dramatischen Fluchtbewegungen über die Grenze zwischen dem Burgenland und dem damaligen Ostblock überleitet.

Vor der Überfahrt waren wir sieben
einer war gleich liegen geblieben
eine mit Kind – weggespült
einen hat’s auf der Mitte erwischt

Einer am anderen Ufer von Hunden aufgespürt
einem haben wir fast die Kehle zugeschnürt
jetzt schleppe ich ihn und er mich
unter Martins Mantel auf der Flucht

Die aus den ehemaligen Ostblockländern in den Westen Flüchtenden zeigen eine Parallele zur Jetztzeit auf. Sind es heute nicht Afrikaner, die über das Mittelmeer nach Europa wollen und vielfach an diesem Unterfangen scheitern und dabei sterben?

Der dritte Abschnitt des Buches kehrt wieder ganz ins Burgenland zurück, inhaltlich, aber auch formal, denn abermals sind es die einzelnen, alleinstehenden Gedichte, die den Ton angeben. Die Weingärten, die Winzer, die Heurigen, die im Herbst frierenden Rebstöcke. Selbstbesinnung, Weihnachten – und plötzlich taucht ein Mahnmal über die Ermordung ungarisch-jüdischer Zwangsarbeiter in den letzten Tagen der Nazidiktatur auf. Das Land ist reich an Geschichte, im Positiven ebenso wie im Negativen. Martina Jakobsons poetische Momentaufnahmen suchen und finden eine Balance zwischen diesen beiden Polen.


Martina Jakobson: Hier biegen wir ab. Edition lex liszt 12, Oberwart 2022. 74 Seiten. Euro 16,–

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