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Unfrisiert ist unverblümt

Unfrisiert ist unverblümt

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Klaus Ebner liest Eberhard Häfners Am unfrisierten Rand


Mit einem Sprung zum Virus, ironisch eingebettet in ein mathematisches Wirtshausambiente, startet der Gedichtband „Am unfrisierten Rand“ von Eberhard Häfner:

im Wirtshaus „Zur Zelle“ schleimten die Wände
ich, ein Eleve, total verschnupft
multiplizierte Viren
zunächst mit dem Quadrat der Stämme
die sich selbst potenzierten

So spaßig hätte das wohl kein einziger Virologe während der Pandemie, die wir miterleben mussten, hingekriegt.

Eberhard Häfner wurde 1941 im thüringischen Steinbach-Hallenberg geboren und wuchs in der DDR auf. Er absolvierte eine Ausbildung als Kupfer- und Silberschmied sowie Metallformgestalter. Seit vielen Jahren lebt er als freier Schriftsteller in Berlin und wurde mit einer Reihe von Literaturpreisen ausgezeichnet, darunter dem Medienpreis der RAI Südtirol beim Lyrikpreis Meran 2018.

Viele Gedichte des Buches weisen ein Vokabular auf, das sich auffallend intensiv der Sprache der Naturwissenschaften bedient. Dieser Autor, dachte ich während der ersten Lektüre, muss eine Menge von Chemie und Biologie verstehen. Dabei hat gewiss auch Häfners Ausbildung Spuren hinterlassen, und es ist faszinierend, wie er dieses Wissen in der Lyrik verarbeitet hat. In gewisser Weise erinnert es mich an Gottfried Benn, der ganz Ähnliches mit den Fachbegriffen der Medizin vollbrachte.

Cover © Klever Verlag

Cover häfner eberhard am unfrisierten rand

Die Konstrukte

Der Gedichtband ist in vier ungleich lange Abschnitte unterteilt, die jeweils mit „KONSTRUKT“ plus einem griechischen Buchstaben übertitelt sind, also „KONSTRUKT alpha“ (in genau dieser Schreibung) bis zu „KONSTRUKT delta“. Alle Gedichte tragen Titel, und in „beta“ gibt es einen sechsteiligen Zyklus namens „H zwei O“ – die aussprachewörtliche Umsetzung der chemischen Formel für Wasser. Darin findet sich die folgende Strophe:

gletscherdings für uns das Wasser süß
trinken den Kaffee ohne
Zucker schon im Blut, wir fühlen uns halb tot
aber halb Fisch unser Kind
schon groß genug für den Klapperstorch
der es zum Mond ausfliegt
wenn Land unter, bleibt zurück
die Bauchspeicheldrüse
darin die Langerhansschen Inseln

Es lohnt sich, Gedichte wie solche mehrmals zu lesen, denn Eberhard Häfner setzt uns hier ein schillerndes Amalgam aus vordergründig banalem Alltagsleben und wissenschaftlich-medizinischem Fachwissen vor, gewürzt mit erstaunlichen Assoziationsketten und Wortspielen. Der Zyklus „H zwei O“ vermengt eine Badeszenerie mit einer Schwangerschaft und den dahinterliegenden physiologischen Vorgängen. Der „halbe Fisch“ im obigen Ausschnitt ist der in der Fruchtblase schwimmende Fötus. Der Zucker im Blut hat wiederum direkt mit den Langerhansschen Inseln der Bauchspeicheldrüse zu tun, denn diese messen die Menge des Blutzuckers und produzieren Insulin. Im weiteren Verlauf schwenkt der Blick auf Umweltverschmutzung und radioaktive Verseuchung, die sich bekanntlich über die Gewässer besonders rasch verteilen.

bist geschwommen im See
das Kind in dir leicht, das Wasser schwer
an Land ein Reaktor
hatte abgelassen, was er angereichert
des Wasserstoffs bösen Bruder
Isotop Deuterium

Wortspiele sind ein auffallendes Merkmal dieser Lyrik. Ein Wort ergibt das andere, ein Gedankenspiel, das unterschiedliche Assoziationen hervorruft; manchmal beziehen sich diese auf ein vordergründiges Thema und manchmal auf eine völlig andere und womöglich nur indirekt in Zusammenhang stehende Begebenheit. Mit Hilfe naturwissenschaftlicher Anleihen und mit einem betont ökologischen Bewusstsein geht Häfner den Dingen auf den Grund, betrachtet sie sozusagen nicht nur von oben, sondern gleichzeitig von unten und sorgt damit für eine verblüffende Transparenz. In „Ein Syndrom geht um“ heißt es:

See Also

es brennt uns der Wald
unter den Nägeln und außerdem
brennen auch Wünsche, kontaktieren
das Herz, für verliebte Spaziergänger natürlich
wider erwarten, das Zahme verwildert
unter der Zuckerlösung

der gute alte Hirtenstab, total entlaubt
mal brav aus der Wäsche geschaut, aber nun
nacktes Holz, schlägt nicht mehr aus
bis auf ein Stück Wald, von oben betrachtet
nach dem wir gestartet, insofern
wir ihm grün

Die Verse

Die Verse einer Strophe lesen sich jeweils wie ein Satz. Die Strophe beginnt kleingeschrieben, sofern sie nicht mit einem Substantiv anfängt, und am Ende steht kein Punkt. Innerhalb der Strophe verwendet Häfner Kommata, und das Zeilenende wirkt mal als einem Komma ähnliche Zäsur, mal leitet sie als Enjambement direkt in den nächsten Vers über. Im letzteren Fall erzielt diese Technik eine Hervorhebung der beiden durch den Zeilensprung getrennten Worte oder zumindest von einem. Dazu die ersten zwei Strophen aus „Horch, es kommt von draußen rein“, einem Text, in dem der einzige enthaltene Satz gleich über alle vier Strophen reicht:

du siehst einen Wald
daran ist nichts falsch, nur die Bäume
ganz richtig, erst ihr Laub
dann die Geweihe abgeworfen

im Revier der Hirschhornkäfer, du findest
zwar die Amulette, während in der Backstube
das Ammoniumhydrogencarbonat
Lebkuchen verbraucherfreundlich macht

Eberhard Häfner zeigt in „Am unfrisierten Rand“ insbesondere ein ökologisches Engagement. Vereinzelt finden sich literarische Anspielungen, wie „Nachsommer“ oder „guter Gott von Manhattan“, und neben dem naturwissenschaftlichen Vokabular auch andere eher seltene Wörter. Der Autor arbeitet – angenehmerweise überaus sparsam – mit lateinischen Einsprengseln und Englischem. Zwei Passagen aus „Vom zerbrochenen Krug“:

was zerbrochen, war bereits erkrankt
als der Krug noch zum Wasser, ging auch eine Tasse
den feinen Haarrissen hinterher
und es stigmatisierten
Krakelüren sie als Kulturflüchterin

(…)

während das Frühjahr bedingungslos
wie du und ich, mehr anti, als post, der erste Sturm
wirbelte fort, was eigentümlich
vor allem das Privileg
zu lesen im post scriptum

Das hart gebundene Buch enthält mehrere Tusche- oder schwarze Aquarellzeichnungen (die Technik ist nicht näher bezeichnet) von Marlen Melzow, die in ihrer kafkaesk wirkenden Art ausgezeichnet zum Duktus und zum Ton von Eberhard Häfners Gedichten passen.


Eberhard Häfner: Am unfrisierten Rand. Klever Verlag, Wien, 2023. 90 Seiten. Euro 20,–

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