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Kleine Dinge und große Widersprüche

Kleine Dinge und große Widersprüche

Ilse Kilic liest Adrian Kasnitz’ Im Sommer hatte ich eine Umarmung


Adrian Kasnitz und ich kennen uns lange, sehr lange, ich würde sagen, auf jeden Fall seit den ersten Tagen der parasitenpresse, der Edition, die Adrian Kasnitz gemeinsam mit Wassiliki Knithaki betreibt, also seit dem Jahr 2000. Wir haben uns auf der Mainzer Minipressenmesse kennengelernt, wo sowohl die parasitenpresse als auch Das Fröhliche Wohnzimmer, das Fritz Widhalm und ich betreiben, präsent waren. Wir waren damals vieles, Autor:innen und Verleger:innen, mehr noch, wir waren auch Herausgeber:innen und, natürlich, neugierige Leser:innen.

Es lag also nahe, dass ein Austausch begann, der bis heute andauert.

Die Themen lagen und liegen auf der Hand: Welche Literatur lieben wir und warum? Welche Literatur wollen wir selbst lesen und schreiben, welche Literatur wollen wir herausgeben, uns für sie einsetzen, auf dass sie von Leser:innen besser gefunden werden kann? Und: Wie lässt es sich leben, als Autor:in und Herausgeber:in, wie ist es möglich, einen freundlichen und unerschrockenen Umgang zu finden mit den erwartbaren Knappheiten und (Über)Forderungen?

Und so kenne ich viele Lyrikbände, die Adrian Kasnitz geschrieben hat. Ich kenne auch Prosa und Übersetzungen, aber um diese soll es ja hier nicht gehen. Ich möchte an dieser Stelle einen älteren Lyrikband zumindest erwähnen, es war eines der ersten Bücher, die in der parasitenpresse erschienen sind. Der Band trägt den Titel „Lippenbekenntnisse“. Er ist, wie viele Bände der frühen parasitenpresse, auf vergilbten und rau geschnittenen, vermutlich händisch zusammengehefteten Briefkuverts gedruckt, ein Leseheft im Do-It-Yourself-Stil also, etwas Besonderes auf jeden Fall, bibliophil und doch günstig zu erwerben, leistbar also für quasi „Alle“. Auch eine kleine Anthologie, herausgegeben von Adrian Kasnitz und Wassiliki Knithaki, ebenfalls auf alten Briefkuverts gedruckt, findet sich im wohnzimmeristischen Bücherschrank, sie trägt den Titel „Agenten“ und die Buchnummer 007 (!), vermutlich ist es die siebente Publikation der parasitenpresse.

Die Gedichte des damals noch jungen Adrian Kasnitz weisen aus meiner Sicht thematisch schon in die Richtung, in die sich die Kasnitzsche Lyrik seither bewegt, ich zitiere aus einem Text von Enno Stahl, der in dieser jungen Lyrik „Subjektivität UND Sprachkritik“ findet und dabei das UND betont.

Foto © Ilse Kilic

Enno Stahl schreibt über die jungen Lyriker (er nennt außer Adrian Kasnitz etwa Jan Wagner, Tom Schulz und Crauss), dass sie „allesamt Ende Zwanzig, Anfang Dreißig, auf eine neue, zugleich unspektakuläre Weise [dichten], unangestrengt, nahe an der Alltagssprache, aber bilderstark“. (Quelle: Überblick über neue deutsche Lyrik. Ein Radio-Essay, Deutschlandfunk/Archiv).

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Ich würde, nun besonders auf den neuen Gedichtband von Adrian Kasnitz fokussierend noch hinzufügen, dass diese Gedichte ein Nebeneinander, ja, ein Korrespondieren von „kleinen Dingen und großen Widersprüchen“ thematisieren, auf eine lakonische, vielleicht lapidare, auf jeden Fall knappe, sparsame Art und Weise. Der Schwierigkeit des Lebens in der Welt voller Krisen steht eine zarte Genügsamkeit gegenüber, etwa beim gemeinsamen Besuch des Parks in der eigenen Jackentasche. Diese Genügsamkeit ist kein Zurückweichen, sondern ein Aufrechterhalten der eigenen Möglichkeiten, eine Suche nach (unentbehrlichen) Glücksmomenten auch unter widrigen Umständen, nicht ohne milde und leise Heiterkeit. Viele Kleinigkeiten drängen danach, erzählt zu werden, aber: Was sind denn eigentlich Kleinigkeiten? Gibt es sie? Ergeben sie ein sogenanntes großes Ganzes, irgendwann? Ist die Tatsache des Alters, das im Gedicht „Ein Nachmittag in den Bäumen“ den Eltern (ich könnte auch „den Älteren“ schreiben) verunmöglicht, Äpfel von den Apfelbäumen zu pflücken, nicht viel mehr als eine Kleinigkeit? Oder, anders gefragt: Offenbart sich in dieser großen „Kleinigkeit“ nicht die Trauer über „Alles“, ja über das Leben selbst? Ist der kurze Blick auf die mittels Kartoffelsack festgebundene Sprosse an der solcherart reparierten Leiter nicht ein sowohl liebevoller, als auch trauernder, ängstlicher und pragmatischer Blick auf die Vergeblichkeit und zugleich Unumgänglichkeit menschlicher Bemühungen? Bedeutet dieses Äpfelpflücken vielleicht sogar auch eine Hommage an den Apfelbaum, der seine Äpfel anbietet und nicht danach fragt, ob sie jemand pflückt?

Äpfel haben im Gedicht „Haus im Wäldchen“ noch einen Auftritt, diesmal (fast) ohne Melancholie, ja (fast). Ein Gedicht, das mit einem davonspringenden Reh beginnt, kann (fast) nicht ohne Melancholie sein, jedenfalls nicht in unseren Tagen, vermutlich ist das der Grund, warum gleich darauf ein Fuchs über das kahle Feld humpelt. Alles Teil der Natur, sagt das Gedicht, auf eine Art, in der alles gleich gültig ist, gleich gültig, nicht gleichgültig. Und dann kommen die Äpfel, sie sind gelb, sie sind ein Stück des erreichbaren Paradieses, würde ich sagen, und sie sind, freundlicher als die Schlehen, nicht sauer. Nicht alles wird gut, manches aber doch, jedenfalls im Wäldchen. Aber wie ist das im Gedicht „Krankenhaus am Rande der Stadt“? Ja, (fast) genauso, nur ohne richtigen Trost, außer vielleicht dem, dass wir nicht alleine sind, mit dem Wissen, dass „es“ dumm laufen kann, sehr dumm, für uns alle. Ich möchte das Gedicht hier als Leseprobe zitieren, beim Lesen lag ich auf der Couch, das Krankenhaus lag in weiter Ferne, ich konnte also mein eigener Trost sein. Auch das ist eine Möglichkeit, aber nicht (für) immer.

KRANKENHAUS AM RANDE DER STADT 
Ist grauer Stein am anderen Ende der Stadt
aus Zement und Zuschlag, ist ein abgeriegelter Ort
jetzt, um den alles kreist, ist trotzdem ein Kommen
und ein Gehen, du kommst stehend und
gehst liegend, sagen die Alten, die am Ausgang rauchen
die Jungen lachen mit, ohne zu begreifen,
dass auch sie gemeint sind, wenn's dumm läuft
ist ein grauer Stein in deinem Bauch, der heraus 
geschnitten werden muss, ist ein Gerinnsel
eine Wucherung, ein Gewebe, Warze, Wahn
ist nicht zu stillen, ist nicht zu kleben
ist ein grauer Stein mit grauem Hirn und
grauen Gedanken, falls du's nicht verlernt hast
das Denken und Lieben, ist ein Ding
das in den Brunnen fällt und dort hockt
in deine Lungenflügel fährt und dort hockt
ist etwas, das dir den Atem raubt
bis eine lange Pause entsteht
lange
	lange
		    Pause 

Ich möchte aber nicht mit diesem Gedicht schließen, das heißt, ich möchte nicht ohne Trost schließen, zumal Trost und die stärkende Kraft des Zusammenseins eine große Rolle in den Gedichten von Adrian Kasnitz spielen, aller Verletzlichkeit zum Trotz beziehungsweise aller Verletzlichkeit eingedenk. Hier also als zweite Leseprobe das Gedicht vom Yppenplatz, das von Begegnungen ebenda, auf dem Wiener Yppenplatz, handelt, und davon spricht, dass auch in der stetigen Unsicherheit sich ganz beiläufig die Schönheit von Augenblicken, aber auch die Schönheit von Gedichten verwirklichen kann, mehr noch, dass diese Augenblicke und die Gedichte uns in die Lage versetzen, auch die Unsicherheit zu tolerieren, gewissermaßen als Eselin auf dem Glatteis zu tanzen. Die in diesem Gedicht auftretenden Personen haben einen gemeinsamen Ort, das kann viel sein. Lassen wir also den Spalt unter unseren Füßen beiseite, er ist (vielleicht noch eine Weile) unsichtbar. Deswegen wohl auch weht durch das Gedicht der Duft der Linde, jenes Glücksbringerbaums, dessen federleichte Früchte wie kleine Propeller durch die Luft segeln können.

YPPENPLATZ

Manchmal sitzen wir auf den Stufen
und schauen dem Sommer in die Augen

Manchmal spielt der Wind im Haar
und meine Finger berühren ein Lid

Manchmal riechst du wie Dill, Joghurt
und Melone				[nicht eher Linde?]

Manchmal sagt Ilse etwas, manchmal Fritz
manchmal schleift dich Evelyn fort

Manchmal bröckelt etwas, siehst du
den Spalt unter unseren Füßen nicht

Adrian Kasnitz: Im Sommer hatte ich eine Umarmung, parasitenpresse, Köln Leipzig Madrid 2023

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