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Schmetterlinge kommen

Schmetterlinge kommen

Gerald Jatzek

Richard Brautigan gewidmet

Diese Frau und dieser Mann pflanzen Bücher, eine Bibliothek, die ihrer Besitzerin
unter die Erde folgt. Sie legen Band um Band in eine Mulde, bedecken ihn mit 
Erde und formen einen Gießrand, der den Regen auffängt. Als sie fertig sind, 
verschwindet der Abend in der Nacht. Nun liegt es am Wind und an den Vögeln,
die Samen herbeizuschaffen, die in dem Feld austreiben.
Beide träumen, wie sich die Bibliothek in der Natur einrichtet. Im Traum des 
Mannes sprießt Roter Mohn aus Gedichtbänden. Aus Kurzgeschichten und 
Romanen wachsen blaue Kornblumen und Wegwarten, und in Sachbüchern
wurzeln gelbe Kamillen oder Löwenzahn.
Die Frau träumt, wie Gänseblumen aus einem Märchenbuch wachsen und
 Bartfäden aus den Gedichten Allen Ginsbergs. Über der gesamten irischen
 Literatur wogen Hopfen und selbstverständlich Gerste.
Am nächsten Tag finden sie ihr Feld verwüstet. Wildschweine haben im Boden 
Delikatessen gesucht, aber bloß Papier gefunden. Die Folge war ein Gemetzel 
unter den Büchern. Sie wurden zertrampelt, zerfetzt, mit den Hauern 
aufgespießt.
Die Frau und der Mann sammeln die geschundenen Bände ein und legen sie in 
die Erde zurück. Herumliegende Seiten stopfen sie dazu, wo sie liegen. 
Theaterstücke zur Naturwissenschaft, Klassiker zu Krimis, Reportagen zur Lyrik.
Der Sommer ist ein guter Sommer, nicht zu feucht und nicht zu trocken. Er 
bringt weiße Schlüsselblumen und Rotklee, violette Schafgarbe und gelbe Kamille 
sowie ein Durcheinander von Schmetterlingen, aber weit und breit keine 
Ordnung.
Am Ende sind die Frau und der Mann den Wildschweinen dankbar. Sie haben den 
Zufall ins erste Drittel des einundzwanzigsten Jahrhunderts transportiert. Die 
Schweine wissen davon nichts. Es spielt in ihrem Leben auch keine Rolle.

Von Gerald Jatzek erschien zum Beispiel: Die Lieder riechen nach Thymian. Reisegedichte. Reisegedichte von Afghanistan bis Zypern. Horn: Verlag Berger, 2014, 64 Seiten, Euro 16,50

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