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„Die Erinnerung wohnt in allen Dingen“

„Die Erinnerung wohnt in allen Dingen“

Cornelia Stahl liest Andreas Altmanns Von beiden Seiten der Tür als Winterlektüre


Der oben genannte Ausstellungstitel der Wiener Exilbibliothek 2024 beschreibt treffend den aktuellen Gedichtband Von beiden Seiten der Tür von Andreas Altmann, den ich im Poetenladen Verlag entdeckte. Darin verwebt der Autor persönliche Erinnerungen und Naturerscheinungen feinstofflich miteinander.

Das Cover, gestaltet von Illustratorin Franziska Neubert, machte mich neugierig und stimmt zugleich auf die Themen des Lyrikbandes ein: Eisschollen (oder Glasscherben) versinnbildlichen Verwundbarkeit und Vergänglichkeit des Menschen und der Natur. Pflanzen bahnen sich unter dem Eis ihren Weg an die Oberfläche.

Foto © Cornelia Stahl 

Nature writing spiegelt sich in Altmanns Gedichten: Die Natur ruft Erinnerungen wach wie im Anfangskapitel, im Gedicht „Das Gedächtnis geht durch den Schnee“: In einer Schneelandschaft verortet ist das Elternhaus. Werden und Vergehen in Natur und Zivilisation bearbeitet Altmann mit verschiedenen Sinnen: Herantasten, Beobachten und Wahrnehmen: Das Ertasten leerer Flure und Zimmer des Elternhauses, Kinderstimmen erklingen. Wände und Türen, die Erinnerungen konservieren:

elternhaus 

in leere flure werden fenster und türen getragen. 
und an wände gelehnt, auf denen erinnerungen 
(…) 
die kindheit wird wieder lebendig, sie ruft aus
fenstern, die sich (…) geöffnet haben. 

Unverbrauchte Bilder Altmanns sowie die metaphorische Sprache erzeugen einen melancholischen Grundton, der als roter Faden wiederum im Gedicht „spur“ erfahrbar wird: Einsamkeit. Schneefetzen, Laub.

spur 

die tür ist einsam, sie steht offen. 
Laub hat sich im spalt gesammelt. 
Fenster sind den augen aus dem gesicht 
geschnitten, fetzen schnee liegen davor. 

Im zweiten Abschnitt „Die Fenster stehen offen“ wechselt die Sprachmelodie, gleicht einer Einladung, genauer hinzuschauen. Wahrnehmungen wirken skizzenhaft, schärfen unsere Aufmerksamkeit und erschaffen eine Hintergrundfolie, mit der wir das Gelesene deuten.

fenster zur eisnacht 

moos federt schritte, durch kiefern führt 
eine wechselspur (…) schnee erinnert 
an die weißen tiere, die unter decken liegen. 

Präzise Beobachtungen im Außen wecken Erinnerungen an eigene Naturerfahrungen. Augenfällig ist die wiederholt gesetzte Metaphorik: Schnee, Frost und Eis: Sie erzeugen Bedrohlichkeit, implizieren Wortlosigkeit und Misstrauen, sind Ausdruck von Beziehungsgeflechten. Unter Schneedecken oder hinter Wänden lauern Geheimnisse: „Mutter hat bis in den tod geschwiegen“, heißt es im Gedicht „mutterhaus“ und markiert Leerstellen, die in jeder Familiengeschichte vorhanden sind.

Altmanns verdichtete Sprache fordert bisweilen Lesepausen ein, die ich vor der Kulisse des Schlosses Schönbrunn verbrachte und die Weite des Schlossparks einatmete. Parallel las ich Julian Schuttings Gedichtband Winterreise (2021).

Doch zurück zu Altmanns Neuerscheinung, die mit einer Besonderheit aufwartet: Den lyrischen Texten innewohnende Vergänglichkeit stellt der Künstler seine aus Holz und Metall gefertigten Fabelhäuser entgegen. In der Buchmitte werden sie als Fotos präsentiert, die ein Eigenleben entwickeln: Mal mit einem Schwert bewaffnet, mal mit einem Aufziehschlüssel ausgestattet, gleichen sie den Fabelwesen aus Märchen und Sagen. Verspielt und luftig erscheinen sie dem Betrachter/der Betrachterin, getragen vom Wunsch nach Beständigkeit.

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Im Schlusskapitel „Was bin ich für ein Mensch“ dominiert Altmanns Innenperspektive sowie Rückschau, passend zum 60. Geburtstag. Das wiederkehrende Mantra „das leben ist schön“ wird zur Klammer zwischen Anfang und Ende, wirkt zukunftsweisend.

Andreas Altmann, geboren 1963 in Hainichen/Deutschland, lebt in Berlin und in der Prignitz/Brandenburg. Letzte Veröffentlichung: Weg zwischen wechselnden Feldern, 2018, im Poetenladen Verlag Leipzig, in dem ich auf Lyriker*innen wie Jürgen Nendza und Róža Domašcyna stieß. Altmann: mein Wintergeheimtipp!


Cornelia Stahl: Studium der Soziologie/Sozialökonomie in Hamburg, Deutsch und Evangelische Religion in Wien. Tätig als Radiojournalistin der Sendung „Literaturfenster Österreich“ bei Radio Orange sowie als Lehrerin, Bibliothekarin und Rezensentin für bn-Bibliotheksnachrichten Salzburg, Die Alternative, AUGUSTIN und etcetera. Absolventin des Lehrgangs Schreibpädagogik beim BÖS Wien. In Wien-Simmering leitet sie ein Erzählcafé.

Letzte Publikationen: Waldgang der Unentschlossenheit, in: etcetera, Heft 84/2021 & Jahrbuch der Lyrik. edition as 2021.


Andreas Altmann: Von beiden Seiten der Tür. Gedichte. Leipzig. Poetenladen Verlag 2023, 104 Seiten, Euro 19,80

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