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Fließende Bilder

Fließende Bilder

Isabella Feimer liest Cinema. Lyrikanthologie als Winterlektüre


*

„im kino
ziehen fließende bilder
vor den augen vorbei
mit dem geschmack von salz

wellen endlos
schleife im abspann
bis zum letzten
schnitt“

(Anja Ross)

*

Dunkelheit und Licht

Es gibt keinen Ort, an dem ich lieber bin als im Kino, und kaum etwas ist erfüllender, als in die Dunkelheit eines Kinosaals einzutauchen, wartend auf das Licht, das sich auf die Leinwand begrenzt und ihr, Bild für Bild, Weite gibt. Exitschilder und Zuspätkommende ausgeblendet, jedes Rascheln und Hüsteln flechtet sich in den Soundtrack des Films mit ein und jeder Atemzug passt sich den Atemzügen der Figuren an. Tiefer sinke ich in den Plüsch, tiefer in die andere Geschichte, bald schon bin ich eins mit ihr. 

Was für Ilse Aichinger der Ort ist, an dem sie das Verschwinden üben kann, ist für mich der Ort, an dem ich meine Existenz spüre wie nirgendwo sonst, mein Sein, mein Wesen in einem Spiegel, aus Dunkelheit und Licht gemacht. Aichinger ging fast täglich ins Kino. Ich versuche, so oft es mir möglich ist, ins Kino zu gehen, Filme schaue ich fast täglich, fast täglich Dunkelheit und ein Ausschnitt Licht. 

© Isabella Feimer

Fließende Bilder

Film. Ein magisches Wort. Von klein auf hatte ich eine starke Verbundenheit zu diesem Medium, und sah ich gerade keinen Film, war ich dabei, mir einen auszudenken. Inspiriert von den gesehenen Geschichten schrieb ich ähnliche Geschichten stichwortartig in kleine, billige Notizbücher, legte Drehorte fest und besetzte meine Filme. Echt fühlte es sich damals an. Eine reale Möglichkeit zu leben (zu sein). Echt fühlt es sich noch immer an, wenn ich mit Haut und Haar und Hals über Kopf in eine Filmgeschichte kippe. 

Kein Wunder also, dass mir Bücher nahe sind, die Filme und das Kino zum Thema haben, die sich der Verzauberung und der Entschlüsselung des filmischen Bildes widmen – so wie die Lyrikanthologie „Cinema“, die 2019 im Elif Verlag erschienen ist. Ein paar Jahre schon begleitet mich dieses Buch, in das ich immer wieder gerne hineinlese, in dem ich immer wieder Neues entdecke. 2021 – die Kinos waren geschlossen – habe ich die Anthologie von einer Freundin mit den Worten „die Sehnsucht stillen“ geschenkt bekommen. Ein wunderbares Geschenk, denn tatsächlich war dieses Buch ein Sehnsuchtsstiller. 

Dass Kino (der Film an sich) ein Sehnsuchtsort ist, zeigt sich in den Texten, die die Herausgeber Wolfgang Schiffer und Dincer Gücyeter zusammengestellt haben. Allen voran im Eröffnungsgedicht mit dem Titel „Abspann“ von José F. A. Oliver, der sich, fast schon sehnend, in die Kindheit zurückversetzt: 

„Wir zupften die namen der toten 
indianer. Die fehlenden finger. Zerbrachen

die brust & die füße. Im angriff ein sprung
ins coyotengeheul & fahrräder 
buckelten ängstliche pferde. Wir saugten

das gift aus den schlangen & trieben
die lauernden wolken ins Fort.“

Das Fort Kindheit, das von den Filmen beflügelt, ein Spiel, das aus einem anderen Spiel heraus entstanden ist. Und ich erinnere mich, auch wir haben im Schulhof Winnetou nachgespielt, haben Schätze gesucht und so manchen Pfeil abgeschossen. Jeder und jede durfte Winnetou sein, jeder und jede auch sein(e) Gegenspieler(in). Und ich muss an Großvater denken. An die winterlichen Sonntagnachmittage, an denen wir gemeinsam Western sahen, „Kugelhülsen klauben“, sagte Großvater, „Schüsse zählen“.

Blättere ich durch die Anthologie „Cinema“, so entdecke ich vieles, das mir vertraut ist, Filmwelten, in denen ich mich auch schon bewegt habe; herumgetrieben habe ich mich in Großstadtsinfonien, in Endlosserien, in den Noir-Gassen und Hinterhöfen, halb Dunkelheit, halb Licht, im futuristischen Neon, in Begierden, atemlos.Vielfalt ist es, was Cinema ausmacht, das Kino an sich und diese Anthologie. Vielfältig sind die lyrischen Betrachtungen und Weiterschreibungen, kleine poetische Manifeste über die Kraft des Mediums Film. Ein Kräftemessen mitunter zwischen Film und Poesie, und mitunter, so scheint es, wehrt sich das Bild, erzählt zu werden, dann wiederum die Poesie, bloß Bildbeschreibung zu sein. 

Wie: „zwei Körper 

die sich enttäuschen“, schreibt Kai Gutacker,

wie: 

„birds

notgelandet

vor meinen Füßen“, schreibt Lütfiye Güzel.

Wunderschön ist es, manche der Be- und Weiterschreibungen des Filmischen zu lesen 

(und wieder zu lesen), und ich darf zitieren: 

„zwinkern dir Nachbilder zu“ (Georg Leß), 

oder „jeder trägt seine Dramen unterm Arm wie ein Gespenst seinen Kopf“ (Gundula Schiffer)

und „heute war wieder so ein Tag

da wollte ich in die Leinwand einsteigen“ (Anke Glasmacher) – wunderschön!

Fast jedes der gesammelten Gedichte erweckt den Wunsch in mir, in die Leinwand einzusteigen. In die des geschriebenen Wortes, in die seiner filmischen und ästhetischen Wurzeln. Alle diese Filme will ich sehen oder erneut sehen, alle diese Orte besuchen, allen diesen Menschen begegnen, den Dichter*innen und den Figuren. Ich möchte der Sprache in ihrer faszinierenden Mannigfaltigkeit begegnen. Wieder und wieder will ich Kind sein und will zurück ins unbekümmerte Spiel. Das unbekümmerte Spiel (oder der Wunsch danach) liegt in den Zeilen der meisten Gedichte, unschuldige Flüchtigkeit, wie sie dem Film eigen ist. 

See Also

„Dann: Begegnung, Worte, Schritte – Alles im Vorüberziehen
Ist von Schlaf umhüllt, umschlossen wie in winzig-ruhigen Händen.
Draußen: nasser Bordstein, und verblichene Photographien
Ziehen all die Fäden des Vergangnen enger zu Legenden“

schreibt Hendrick Jackson in einem Gedicht mit dem Titel „Parallele Stränge“, und wieder muss ich an meinen Großvater denken. An die Liebesszenen auch, bei denen er die eine oder andere Träne verdrückt hat, und niemand durfte wissen, dass er ein klein wenig heult und nicht nur Western mochte, Schüsse zählte, Hülsen klaubte und alleine in den Sonnenuntergang ritt.

Abspann

Bilder. Sie fließen ineinander. Sind Leben, Lachen, Tränen. Mehr. Dass Kino viel mehr ist als die Projektion unseres Fühlens, liest sich in den Gedichten der „Cinema“-Anthologie. Kino ist auch immer Auseinandersetzung und Reflexion, es ist das Hinterfragen seines Mediums und das Hinterfragen des Selbst und der Zeit und der Welt, die diese Zeit hervorgebracht hat. Kino, so wie die Texte dieser Anthologie, darf über sich hinaus geschrieben werden – und die Gedichte, die dies tun, von uns Leser*innen weiter. 

Nichts Abgeschlossenes lese ich in „Cinema“, ich lese Offenheit, eine Öffnung, etwas wunderbar Unfertiges, das – ganz so, wie es gutes Kino tut – dem Eigenen Platz einräumt und es prüft und fordert. Ich lese Provokation, Gewalt, Pornografie, ich lese Trash und Camp und Traurigkeit, 

„ohne wiederkehr, ins flackern“ (Jayne-Ann Igel), „mit maroden Räumen, geträumter als fast“ (Ilma Rakusa), ein „kleiner Bildfick“ (Matthias Göritz) und „Spracheschälen bis zum letzten Wort“ (Björn Hayer). Das und mehr, mehr, mehr Bilder und mehr lese ich in diesem „Cinema“. 


Cinema. Lyrikanthologie. Herausgegeben von Wolfgang Schiffer und Dincer Gücyeter. Collagen von Stefan Heuer. Elif Verlag, 2019, Euro 20,00

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