Regina Hilber liest Warsan Shire: HAUS FEUER KÖRPER als Winterlektüre
Wenn in Wien die Februarkälte dräut, zieht es mich regelmäßig in den Weltladen Südwind Buchwelt in der unteren Mariahilfer Straße. Hier, umgeben von Büchern aus Afrika und Lateinamerika, bahnt sich sofort ein wärmendes Gefühl durch den bunten Laden, während draußen der strenge Winter im Grau verharrt. Zwischen exotischen Gewürzen und grellen Wollmützen (fair trade) verbirgt sich im Weltladen eine Auswahl feiner Literaturen, die sonst kaum in Buchhandlungen auf Büchertischen zu finden sind. Lesestoff aus Südamerika, Afrika oder Asien versprechen vor allem neuen Input, willkommen fremde Zivilisationen, aber auch ernüchternde Brennpunkte in meinem Zuhause.

© Regina Hilber
Die britisch-somalische Autorin war mir kein Begriff beim Kauf des Buchs, aber nach kurzer Recherche war klar: Die in London lebende Dichterin mit somalischen Wurzeln ist im englischsprachigen Literaturbetrieb ein Star.
Keine geringere als R&B-Größe Beyoncé hatte 2016 Verszeilen der jungen Dichterin zwischen den Songs in ihrem Album Lemonade eingeflochten. Damit war Warsan Shire sprunghaft einem riesigen internationalen Publikum ein Begriff geworden. Eine Unbekannte war die damals 27-jährige Dichterin in ihrer Zweitheimat Großbritannien keineswegs. Zu diesem Zeitpunkt konnte sie nach ihren anfänglichen Lyrikposts auf Tumblr bereits veritable Erfolge feiern.
Um Warsan Shires Impetus für diese kraftvolle, direkte und mitunter brutal anmutende Poesie nachvollziehen zu können, genügt ein Blick auf ihre Biografie:
In Kenia als Kind somalischer Flüchtlinge geboren, emigrierten ihre Eltern nach Ausbruch des Bürgerkrieges in Somalia nach Großbritannien. Da war Warsan Shire erst ein Jahr alt und doch leuchten ihre somalischen Wurzeln, ihre afrikanische Identität sowie die Gesetzmäßigkeiten des Islams durch jede Zeile dieses Gedichtbands. Schon die Anordnung des Titels am Buchcover ist nicht nur Programm, sondern auch ein Gedicht:
bless the daughter HAUS raised by a voice FEUER in her head KÖRPER

© Regina Hilber
Nichts für schwache Nerven
Haus:
HAUS FEUER KÖRPER katapultiert ungeschönt und sehr direkt die Nöte, Ängste, Alltagsbrutalitäten, körperlichen Verletzungen, dauerhaften Verwundungen, aber auch den unbändigen Überlebenswillen im Alltag einer afrikanisch sozialisierten Frau in das Vakuum der Leserschaft:
Extreme Mädchenzeit: […] Erschrocken wacht sie auf, jemand durchtrennt die Schnur, etwas kriecht tief in sie hinein. Bist du da, Gott? Ich bin´s, die Hässliche. Gesegnet sei das Kind mit Haartyp 4, die Kopfhaut mit der Milch der Grausamkeit massiert, der Schädel verflucht, eingequetscht zwischen Erwachsenenknien, getränkt in Pink Lotion. Alles, was du mir angetan hast, erinnere ich. Mama, ich habe es lebend aus deinem Haus geschafft, großgezogen von den Stimmen in meinem Kopf. S. 17
Bei der erstmaligen Lektüre hatte ich das Gefühl, dass die dichterische Instanz vor allem eines kennt: Schmerz, Traumatisierung und Trauer. Sharon Dodua Otoo spricht im Nachwort von den spezifischen weiblichen Erfahrungen, die Warsan Shires Gedichtband zugrunde liegen. Folter, Mord, Gefängniserfahrung, Kindesmissbrauch und Genitalverstümmelung reihen sich an Fluchterfahrungen und Diskriminierung. Die Zeile „Niemand verlässt sein Zuhause, es sei denn Zuhause ist das Maul eines Haifischs“ (S. 29) wurde vielfach zitiert.
Feuer: Segen dem Gespenst I Meine Mutter trug es auf ihrer Haut, das Leichentuch um ihren Schädel, Zeug unter ihren Nägeln. Ihr Gynäkologe dachte er sähe etwas zwischen Spekulum und Zervix. Während sie liest, züngelt es wie Feuer zu ihren Füßen, sie fühlt, wie es zwischen ihnen schläft. In der Dusche schäumt es ihr den Rücken manchmal umarmt es sie von hinten, zieht sie nach unten. Nie begegnet sie seinem Blick, dankbar hält es sie warm. S. 33
Die Wut, die mitunter durch die Verse dringt, ist auch das Ringen mit ihrer Mutter (auf somalisch Hooyo). Shire bezeichnete sich selbst als sog. Shift Mother (Schichtmutter): Nach dem täglichen Schulbesuch musste sie auf ihre jüngeren Geschwister aufpassen, nie hatte sie einen stillen Moment für sich. Das ambivalente Verhältnis zur Mutter bzw. zu Mutterschaft im Allgemeinen als Hybris findet sich später auch in Hannah K Bründls Gedichtband Mother_s, den ich letztes Jahr für die Poesiegalerie besprochen hatte.
Wie für so viele afrikanische Mädchen und Frauen, die Opfer der Genitalverstümmelung oder des sexuellen Missbrauchs werden, bedeutet das spätere Verzeihenkönnen der eigenen Mutter für die erlebten Qualen, einen gewaltigen Kraftakt. Auch Gott muss verziehen werden: Segne, Segen und gesegnet werden repetitiv, einem beschwörenden Gebet gleich, eingesetzt.
In HAUS FEUER KÖRPER begreift das lyrische Ich die Identitätsfindung als fortlaufenden Prozess zwischen Entwurzelung, Fremdenfeindlichkeit und frauenfeindlichem Islam, in welchem der weibliche Körper stets Sünde bleibt. Auf der Literaturonlineplattform leselust.de war in einer Buchbesprechung von „Ewigkeitspotenzial“ die Rede, dem kann ich mich nur anschließen.
Körper: Anpassung […] Ich kriege die Flucht nicht aus meinem Körper, ich versperre meine Körper immer, wenn ich kann. Wie viele Tabletten braucht es, um einzuschlafen? Und wie viele, um bei den Toten zu sein? […] S. 19
Eine der ÜbersetzerInnen dieses Lyrikbandes, Muna AnNisa Aikins sagt: „Warsan schreibt Gedichte, die verkörpern, was Menschen nicht tragen können.“
Dass dennoch eine poetische und unbändige Kraft den Lyrikband beherrscht, ist angesichts der Brutalität dieser ausverhandelten Themen erstaunlich, ja, lässt mich demütig zurück in unserem (immer noch) privilegierten Europa. Es ist mehr als ein schriftstellerischer Verdienst der Autorin, ihre Verse und Lyrik-Miniaturen trotz ihrer harten Sozialisation mit jener Lebendigkeit ausstatten zu können.
Ich lege allen Leser*innen ans Herz, Warsan Shires Gedichte zuerst in der englischen Originalfassung zu lesen, und sich erst dann den deutschen Übersetzungen von Muna AnNisa Aikins, Mirjam Nuenning, Hans Jürgen Balmes und Charlotte Milsch zu widmen.
Warsan Shire: HAUS FEUER KÖRPER, Zweisprachige Ausgabe Englisch-Deutsch, S. Fischer Verlag, 2022, Mit einem Nachwort von Sharon Dodua Otoo.