Rhea Krčmářová liest Erika Kronabitters Delfine vor Venedig
Residencies – also Schreibaufenthalte – haben in der Literatur eine lange Tradition, ermöglichen Stille, Abstand, Inspiration. Eine Institution, die Autorinnen und Autoren die Möglichkeit gibt, sich für zwei Wochen an einen Schreibort zurückzuziehen, ist die LiterarMechana, die Aufenthalte im Salzkammergut ermöglicht, aber auch im Ausland: in Berlin, Triest und Venedig. Die Wohnung nahe der Rialtobrücke gehörte der Südtiroler Schriftstellerin Anita Pichler, die sie nach ihrem frühen Krebstod 1997 der LiterarMechana vermachte und so bis heute anderen Schreibenden ermöglicht, die Stadt zu erkunden, aber auch in Ruhe an Prosa, Drama und Lyrik zu arbeiten. So entstand vor einiger Zeit Kirstin Breitenfellners Gedicht- und Fotoband Sehnsuchtsüberfüllung zwischen Canale Grande und Lido, auch Christl Greller Buch TAGSÄTZE zur Nicht- oder Bewältigung, das im Mai 2025 erscheint, erzählt „in etlichen Tagsätzen“ vom Schreiben in der Wohnung beim Campiello del Sol und in der Lagunenstadt.

Der Aufenthalt der 1959 in Hartberg geborenen und in Vorarlberg lebenden Autorin Erika Kronabitter in der Literarmechana-Wohnug fiel in die Zeit der Corona-Pandemie, und das erklärt auch den Titel ihres Gedichtbands. Der Klappentext beschreibt die Relevanz der Meeressäuger so: „Die Sichtung von Delfinen in der Lagune von Venedig während der Coronazeit: Das ist der Ausgangspunkt, den Erika Kronabitter nimmt, um sich auf neue Wege durch die altehrwürdige Serenissima zu begeben. (…) Die Verliebtheit in ein Venedig, das uns unbekannt ist, legt sich wie eine Folie über das Bekannte und verspricht zuletzt nicht weniger als einen Neubeginn.“
Cover © Edition Melos
Von Säugern und Schiffsabwesenheiten
Die titelgebenden Delfine – eine lokale Variante des Phänomens der sich an ungewohnte, durch Corona menschenleere Orte vorwagenden Tierwelt – sind tatsächlich ein neuer, überraschender Aspekt, den Kronabitter nicht nur einfängt, sondern auch einzuordnen sucht:
blauzarte wangen lachend das plätschern | der markusplatz erzittert freudiges erzittern mit gänsehaut aufstehend die härchen kein geschrumpfter drohton stampfender motoren | kein stundenlanges vergiften der tauben delfine vor venedig das meer sommerleicht geöffnet | so sommerlicht
Dennoch widmet sich der Gedichtband nur in einigen Texten explizit einem Venedig zwischen Lockdowns und Leere. Das Gedicht „scherenschnittmöwen“ erzählt von einer Frau an der Mole „mittig im blauen raum“ , erweckt den Eindruck von Isolation, von Distanz. Ein anderes Gedicht spricht aber von flachschuhigen (Touristen-)Chören, die sich über die Stufen der Brücken schieben, und von Selfies – also vom venezianischen Alltag. Delfine begegnen uns noch ein zweites Mal, allerdings nicht als reale Wesen, sondern als Wunschbild zweier dressierter Delfine, die durch den Canale Grande flippern.
Stadtmomente, skizziert
Generell schlägt der Inhalt eine andere Richtung ein, als der Klappentext vielleicht erwarten lässt. Erika Kronabitters Venedig ist weniger Lockdown-Analyse, sondern präsentiert sich vielmehr als eine Sammlung kurzer, impressionistischer Stadtskizzen. Die Autorin ergeht sich nicht in bekannten historischen Fakten, lässt sie höchstens kurz aufblitzen. Es gibt keine Ordnung nach Themen oder Stadtteilen, der Leser oder die Leserin werden zu Touristinnen oder Touristen, die sich durch die Stadt treiben lassen, von Zattere bis zum Lido, sie besuchen mit der Autorin Bars und den Markusplatz und bleiben vor Strawinskys Grab am Friedhof von S. Michele stehen.
Einige der Gedichte im Band lassen sich Venedig nicht wirklich zuschreiben, lassen sich kaum verorten, könnten auch an ganz anderen Orten geschrieben sein.
ein präziser schnitt | auf der timeline
wir tun als hätten wir eine atemberaubende
beziehung
                                               | hinter uns
Auch zeitlich ist man sich beim Lesen nicht immer sicher, ob man sich wirklich nur in der Pandiemiezeit befindet. Das Gedicht „caffè del doge“ spricht davon, dass die Touristen anderswo sind, fragt – ohne Antworten zu erhalten –,ob sie noch nicht angereist sind oder noch im Bett liegen, was der Atmosphäre des Textes aber nicht schadet. Im Gedicht „hoffnung und“ werden Ozeanriesen und die Biennale erwähnt, wobei das auch eine Vision der Post-Pandemie-Normalität sein kann.
Die Gedichte sind (fast) konsequent kleingeschrieben, teils finden sich unter den linksbündig gesetzten Zeilen einige rechtsbündig angeordnete kursive Worte, die davonzuschwimmen scheinen.
wattierter blick | ist es nebel
nacht | luft | nichts und niemand sonst
dahinter meer | finnland grönland
der blick nach nordnordost
mit sehnsucht nach süden
in der entfernung verschwimmen
die schärfen | ränder
dazwischen mein Ich mit deinem
verlorenen lächeln
in schwebe |
                                           wie unter tränen
Senkrechte Striche, die in ihrer Häufigkeit an aus dem Wasser ragende Holzpflöcke denken lassen, an die die Gondeln und andere Boote angebunden werden, teilen die Gedanken und Phrasen. Die Autorin spielt oft mit ähnlich klingenden Wörtern, so lautet eine Zeile „masten morsen | den guten morgen“. Dass sich in einigen Gedichten das exakt gleiche Wort mehrmals findet, fällt da umso stärker auf. Erika Kronabitter flicht manchmal italienische Worte ein, überfrachtet die oft kaum eine halbe Seite langen Gedichte aber nicht damit (in einem der Texte spricht das lyrische Ich sehr selbstkritisch davon: „hölzern dein italienisch trennt dich mehr als du zugibst“). Überhaupt spaziert das lyrische Ich nicht immer alleine durch Venedig, es finden sich einige intime Ansprachen an ein vertrautes Du, manchmal ist von einem Wir die Rede.
wir atmen die sonnenstrahlen um uns in der dunkelheit zu trösten ein schatten | der aussieht wie ein mann vor einer hütte der horizont | ist eine gezuckerte linie oder: zuckende linie wir füttern streitsüchtige sterne
Die Stadt als Herausforderung
Am stärksten sind Kronabitters Sprache und Texte dort, wo sie die Pfade des Eindeutigen, des Irgendwie-schon-oft-Gelesenen verlassen und sich dem Mehrdeutigen, Unscharfen zuwenden, wo Interpretationen zugelassen werden und den Lesenden neue Bilder entgegenflirren.
betört versinkt das schiff im nebelnirwana
wirft den schleier über ziele und pläne |
wir ziehen eine unsichtbare linie unter
unsere vorstellungen enden
sind zeiten | gezeiten
vergangen | sind wiederholung
denken wir oder werden gedacht
                                                wir ahnungslosen
Erika Kronabitter hat sich mutig an die Herausforderung gewagt, für eine Stadt, über die schon überaus viel geschrieben und gedichtet wurde, neue Bilder und Worte zu finden, und in vielen ihrer Gedichte gelingt es ihr auch (obwohl sie selbst im Gedicht „calle varisco“ von der Unmöglichkeit schreibt, unbegangene Wege zu finden). Dennoch bleibt die Frage, ob ein anderer Titel oder/und ein etwas anderer Klappentext die Intention dieses Gedichtbands vielleicht nicht etwas besser abgebildet hätten. So schwebt beim Lesen doch eine gewisse Sehnsucht mit, durch die Augen und Worte der Autorin mehr zu erfahren, über einen Touristenmagneten im Ausnahmezustand, über eine Pandemie, die über Lagunen und Kanäle der Serenissima hereingebrochen ist.
Erika Kronabitter: Delfine vor Venedig. Edition Melos, Wien, 2024. 84 Seiten. Euro 26,–
 
		 
			
 
			