Alexander Kluy liest Rhea Krčmářovás Tagebruch / Instant

„Aufruhr im Detail, Beruhigung im Ganzen“: Der Franzose Francis Ponge (1899–1988) war einer jener Dichter, die die Natur im Wort bannen wollten. Immer wieder umkreiste er sie. 1954 begann er ein Dossier, ein kariertes Spiralnotizheft mit Aufzeichnungen über, so der eigentümliche Titel, die Änderung der Ansicht über Blumen.
Cover © Limbus Lyrik
Änderung bezog sich dabei auf die Änderung des Ausdrucks, des eingefahrenen Verhältnisses von Wort und Ding, Kunst und Natur. 1968, ausgerechnet in jenem globalrevolutionär so politisch bewegtem Jahr, publizierte Ponge, da bereits, nach Jahren der Lehre, im Ruhestand und in Südostfrankreich, in Bar-sur-Loup, rund 30 Kilometer nordwestlich von Nizza, lebend, Teile des Manuskripts, das final unabgeschlossen blieb. 2005 erschien Thomas Schestags Übersetzung von „L’Opinion changée quant aux fleurs. Änderung der Ansicht über Blumen“. Man konnte in diesem stillen, schönen, still-schönen Band den französischen Dichter buchstäblich beim Verfertigen der Sätze und Bilder und Ideen begleiten.
Heute, zwanzig Jahre später, muss man nicht auf Gedrucktes mit sehr langer Vorlauf- und Produktionszeit warten. Zumindest nicht bei und von Rhea Krčmářová. Denn sie, die Wortkunst schafft, Buchkunst und transmediale Kunst kreiert – all das ist zu inspizieren in „Tagebruch / Instant“ –, präsentiert ihre Poeme, deren polare Merkmale ebenfalls Aufruhr und Beruhigung sind, häufig zuerst digital, auf Instagram. Geschrieben werden die Gedichte in der Regel von ihr nicht stante pede, sondern „to go“ ins Smartphone.
In Buchform nun versammelt und klug wie sensibel arrangiert, fällt als erstes auf: Der „klassische“ Zeilenbruch ist ersetzt durch die Verwendung von Schrägstrichen. Sie, vielleicht tatsächlich zeitgemäßer – und ja buchstäblich optisch, weil typografisches Gestaltungselement –, erfüllen dieselbe Aufgabe: zu zeigen, wie Melos und Rhythmus vorgegeben sind und wie sinnlich dies sein kann. Etwa gleich im Auftakt, einem Saisongedicht, das das Saisonale rasch in technoid inspirierte Vergänglichkeit umkippen lässt:
„Sommerfreitagruheabend / fast / meine Fußspitzen umbranden / U-Bahnwellen zweiminütlich / die Rücklichtkolonne jenseits der Flussandeutung / frisst sich / behäbig / in werdende Nacht“
Surrealistisches, Zärtliches
Dieses Auftaktpoem ist nicht zufällig als erstes an die Tête gesetzt worden. Denn bereits hier finden sich Plastizität und Sinnlichkeit, das genaue Schauen und das präzise Metamorphisieren, die Verwandlung von Welt in Poesie. Immer wieder gelingen ihr, so wie „Sommerfreitagruheabend“, großartige linguistische Coups. Nicht selten gemahnt ihr Tonfall an Surrealistisches. Sie vermag auch graziös und auf der Stelle einleuchtende Neologismen zu erfinden, so zum Beispiel „Frühnachmittagsbling“ oder „Glitterknochen“ oder „Saisonstumpf“. Immer wieder lässt sich Zartheit verorten und Zärtlichkeit konstatieren und, auch, Sehnsucht und, zusehends, Verlangen.
Manche Poeme sind Moment-Aufnahmen, Sekunden-Splitter, die dem einen Teil des Untertitels, „Instant“, entsprechen und von denen nicht wenige in sich schier perfekt anmuten:
„twinkle twinkle / kleine Hand / Hang zum Geschliffenen / gelenksbereit / und wenn die Triumpheserinnerungen / erdwärts sich hängen / fangen sich Sonnen / im Galaxienkern“
Chronologie und Verwandlung
Die mit dem jeweiligen Tages-, dem Entstehungsdatum versehenen Gedichte setzen im Hochsommer ein, am 1. Juli. Der Band endet chronologisch fast genau zwei Jahre später, mit einem auf den 13. Juni datierten Poem. Gar nicht unwichtig – im Gegenteil! – ist, dass die Autorin auch den Umschlag selbst gestaltete sowie den Gedichten vier Fotoarbeiten mitgab; zudem gibt es einige, die sie auf Englisch schrieb. Es sind bildliche Reflektionen über das menschliche Gesicht, hier in unterschiedlicher Farbgebung, dort in nahezu ovidianischer Manier – das Antlitz verwächst mit einem Wald –, dann als sechsteiliges Bildpanel mit überschriebenem Text. Eine Erforschung des Ichs, selbst an, wie einmal erwähnt, für die Lyrik extrem überraschenden Orten wie etwa einem Möbelhausparkplatz. Doch der Impetus des Schreibens geht über reine Nabelschau hinaus:
„das ist / kein / Selbstporträt im / staubgeschmückten Spiegel / auch kein / dich Suchen hinter / drecklasiertem Glas / kein / bruchgewolltes / Eitelkeitsanmuten / kein Wunsch / der / seine Wirklichkeit / vergaß“
Die Dicht-Welt Rhea Krčmářovás ist keine, die sich ver-puppt, vielmehr eine, die sich ent-puppt. Und dies durch die Magie der Worte, in die sie überführt wird.
„es legen sich / meine Abende / über zarte Nächte / wenn das suchende / Gewusel sich / dem Stadtpark nähert / forschen meine Zweige / nach dem Traum vom Sprießen / leise blenden mich / Sigillen / unsichtbarer Städte“
Immer wieder gibt es Ausbruch und Ausbrüche, in Sprache, in Bilder, in materiell sensuelle Andersweltbilder in diesem Band, der oszilliert zwischen punktueller Stärke und der Wucht der Zeit, zwischen Analytischem, jäh lyrisch Aufglitzerndem und Philosophischem. Warum, ja, warum, heißt es einmal,
„keine Tagemonde jagen / und zuckergetränkte Gebäude / Einminutenferien erschaffen / Spiegelungen anlachen / orakelbekleidet und brach / Schreine bauen und / Altäre / aus Farbstaub / uralten Pigmenten / die Zunge salben / mit himbeerduftenden Träumen“
Fazit: Aufruhr im Detail, Beruhigung im Ganzen.
Rhea Krcmárova: Tagebruch / Instant. Limbus, Innsbruck, 2024. 96 Seiten. 15,– Euro