Lukas Meschik liest Peter Handke: Leben ohne Poesie als Sommerlektüre

Peter Handkes Gedicht an die Dauer gehört zu den Texten, die man immer wieder lesen kann – und immer wieder auf sehr schöne Weise nicht versteht. Mir jedenfalls geht es so. Es handelt sich um ein Langgedicht, ursprünglich erschienen 1986 als eigenständiges Buch. Ich besitze lediglich den 2007 erschienenen Sammelband Leben ohne Poesie, in dem es abgedruckt ist. Alle paar Jahre lese ich dieses rätselhafte Gedicht, weil es mir in den Sinn kommt, und mache mich daran, es zu ergründen, auch im letzten Sommer war es wieder so weit.
Cover © Lukas Meschik
Ich las es an einem verregneten Julinachmittag zu Hause in Wien, mit Blick aus dem Fenster – auf graue Dachlandschaft, aus der ein Flakturm ragt. Man liest dieses Gedicht am besten in einem Rutsch, wie man ja überhaupt Gedichtbände möglichst ohne Unterbrechung lesen sollte, um ganz in den durch die Sprache geschaffenen Raum eintauchen zu können.
------------ - ... Die Dauer, was war sie? War sie ein Zeitraum? Etwas Meßbares? Eine Gewißheit? Nein, die Dauer war ein Gefühl, das flüchtigste aller Gefühle, oft rascher vorbei als ein Augenblick, unvorhersehbar, unlenkbar, ungreifbar, unmeßbar. … ------------- -
Das lyrische Ich – nennen wir es ruhig Peter Handke – beschreibt das Vorhaben, endlich etwas über die Dauer zu schreiben. Allerdings „keinen Aufsatz, keine Szene, keine Geschichte“, heißt es zur Einleitung, denn „die Dauer drängt zum Gedicht“. Um dieser abstrakten Entität nachzuspüren, beginnt das Ich sich zu erinnern, an Orte und Szenen, an flüchtige und wichtige Begegnungen. Handke zeigt seine Meisterschaft im Ausloten und Beschreiben der Innenwelten und Außenwelten – und natürlich der Innenwelten der Außenwelten der Innenwelten.
Das Gedicht beginnt in Salzburg – wo er zur Zeit der Niederschrift und Veröffentlichung lebte –, der Erinnerungsfaden spinnt sich weiter zu einer zweiwöchigen Segelreise mit einem Hubert und einem Felix, schließlich bis zurück in die Kindheit nach Kärnten an einen Griffener See; auch Triest und Paris blitzen als Schauplätze auf, nur ganz kurz, denn nirgendwo will dieser Blick länger verweilen. So rauscht die reimlose, gelassen rhythmisierte Prosa durch ein Leben, jedenfalls durch die bereits gelebte Hälfte, auch Momente mit einem Kind blitzen auf. Handke-Kenner sehen seine Tochter Amina vor sich.
----------- - … die Dauer mit deinem Kind, sie kann dich überwältigen, sooft du, seit Stunden eingeschlossen ins Zimmer, mit einer dir nützlich dünkenden Arbeit, in der Stille den dir zur Richtigkeit des Ganzen noch fehlenden Zusatz, das Geräusch der sich öffnenden Haustür hörst, Zeichen der Heimkehr, welches dir da, Geräuschempfindlichster der Geräuschempfindlichen, bist du nur zugleich recht bei der Sache, als die schönste Musik erklingt. … ----------------- -
Ich halte es für ausgeschlossen, dass es sich bei Handke um den „Geräuschempfindlichsten der Geräuschempfindlichen“ handelt – das bin schließlich ich! Mein Blick fällt auf den bereitliegenden Gehörschutz, von dem ich noch ein zweites Exemplar besitze. Sonst sieht man sie nur auf Baustellen mit Presslufthammer. Kein Handgriff ist mir zu klein, kein Mucks in der Umgebung ist mir zu leise, dass ich nicht aus der Konzentration gerissen und in einen stummen Tobsuchtsanfall gestoßen werde.
Das Gedicht an die Dauer bringt schön auf den Punkt, wie die – schmerzhaft genau – wahrnehmende Künstlerseele einerseits Gemeinschaft braucht und sucht, sie aber andererseits nicht erträgt, weil sie die innere Stille stört. Sich selbst beim Denken und Fühlen zuhören zu können, wird zur Frage der Existenz. Handke hinterfragt diese Paradoxie, was sich fast wie eine Rechtfertigung oder als an seine Liebsten gerichtete Entschuldigung liest.
----------- - … Arthur, als ich zuletzt in Paris war, hatten wir abgemacht, gemeinsam wieder einmal zur Fontaine Sainte-Marie zu gehen. Doch dann, mit dir dort, nach einer guten Stunde zusammen, drängte es mich, anders als beschlossen, auf dem Weg allein weiter, und ich schickte dich heim. … ---------- -
Mittendrin widerspricht Handke sich selbst, wenn er sagt: „Das Gedicht von der Dauer ist ein Liebesgedicht“. Dabei ist an diesem Buch so bedeutsam und geheimnisvoll, dass es eben nicht „von“ der Dauer handelt, sondern „an“ die Dauer gerichtet ist. Sie, die Dauer, wird damit greifbar; wird, wenn schon nicht zur Person, dann eben zum Wesen, mit dem man hadern und verhandeln, an das man das Wort richten kann. Das Langgedicht als Anrufung.
Wieder habe ich das Buch gelesen, wieder bei vielen Formulierungen anerkennend genickt. Mir fällt kaum ein Schriftsteller oder eine Schriftstellerin ein, bei dem oder der fast immer das richtige Wort am richtigen Platz ist. Die Nobelpreisfrage war für mich seit jeher beantwortet. Und wieder habe ich zwar jede Zeile für sich verstanden – aber nicht das Gedicht als Ganzes. Weil ich zwar eine Ahnung von dieser ominösen „Dauer“ bekommen habe, sie mir aber weiterhin nicht vorstellen kann. Die Dauer ist für mich zum Wesen geworden, hat aber nach wie vor kein Gesicht. Sie löst etwas aus, verfolgt aber keine Ziele.
Vielleicht denke ich viel zu kompliziert. Eigentlich ist es ja ganz einfach: Ein Ich – ein Mensch, ein Handke – denkt nach über das Vergehen der Zeit, über Momente der Ewigkeit und Jahre, die im Flug vergehen. Ein Mensch verortet sich als denkendes, fühlendes Wesen, setzt sich in Beziehung zu anderen Menschen, die immer zu nah oder zu weit weg sind, nie nah oder weit weg genug. Das alles in einer Sprache, der man nichts hinzufügen und bei der man nichts weglassen könnte. Das Gedicht an die Dauer ist nicht sehr lang, aber auch nicht zu kurz. Es könnte unendlich so weitergehen, aber hört eben auf zur richtigen Zeit. Vielleicht lautet das Geheimnis dieses Gedichts, dass es wie das Leben ist: Unergründlich und mit einem Mal vorbei.
------------- - … Wahr bleibt: Die Dauer ist kein Gemeinschaftserlebnis. Sie bildet kein Volk. Und trotzdem bin ich im Zustand der Gnade der Dauer endlich nicht bloß ich allein. Die Dauer ist meine Ablöse, sie läßt mich gehen und sein. … ------------ -
Peter Handke: Gedicht an die Dauer. Bibliothek Suhrkamp 930. 54 Seiten. Broschur. Euro 14,00,-
Peter Handke: Leben ohne Poesie. Suhrkamp Verlag 2007/2018. 237 Seiten. Euro 15,00,-