Now Reading
du musst schon selbst schreiben um geschrieben zu werden

du musst schon selbst schreiben um geschrieben zu werden

Kirstin Breitenfellner liest Semier Insayifs vom auf horchen und zu fallen


Semier Insayif gehört zu den schillerndsten Figuren der österreichischen Literaturszene. Der Autor von sieben Gedichtbänden sowie eines Romans kooperierte mit bildenden Künstlern, tritt oft mit Musikern auf, brilliert selbst als Vortragskünstler und nicht zuletzt als Kunstvermittler:

Cover © Klever

als Kurator der Veranstaltungsreihe „DICHT-FEST“ im Literarischen Quartier Alte Schmiede in Wien oder als Präsident des BÖS (Berufsverband Österreichischer Schreibpädagog:innen). Nebenbei arbeitet er als Kommunikations- und Verhaltenstrainer, Trainer für Interaktionsanalyse, systemischer Berater, Mediator und Supervisor.

Wer einen seiner Auftritte erlebt hat – stimmlich ausdrucksstark, mit ausgeprägter Gestik und lebendiger Mimik, der Kopf umflossen von einer mittlerweile silberfarbenen schulterlangen Lockenpracht, den Blickkontakt zu seinen Zuhörern nie verlierend –, wird auch seine Gedichte nicht mehr lesen können, ohne ihre Verlebendigung durch ihren Erschaffer mitzudenken.

ungestillte blicke oder vom bebildern eines kopfes und beschriften desselben lautete der sprechende Titel seines letzten Gedichtbands, 2022 ebenfalls bei Klever erschienen. Er war dem Sehen und Erleben von Kunstwerken gewidmet, und zwar sowohl einzelnen Werken als auch dem Komplex „Dichtung und bildende Kunst“ im Allgemeinen. Insayif geht seine Themen gründlich an. Er legt nicht nur seine Texte vor, sondern damit auch gleich ihren Entstehungsprozess sowie seine Quellen offen.

Vom Zufall zum Fallen

vom auf horchen und zu fallen lautet der Titel des neuen Bandes. Als Mottogeber firmiert der antike Philosoph Demokrit mit der These: „Alles, was im Weltall existiert, ist die Frucht von Zufall und Notwendigkeit“. Und ein Autor, der nur wenigen bekannt sein dürfte, obwohl sein Werk mehr erklärt als viele andere Bücher zusammen: Bernhard Weßling, Chemiker, Naturforscher und Unternehmer, legte vor zwei Jahren im Springer Verlag ein schmales Buch mit dem Titel „Was für ein Zufall!“ vor. Zufälle seien in unserer Welt, die aus komplexen, interagierenden Strukturen bestehe, nicht selten, sondern häufig und „normal“, postuliert er darin. Insayif hat aus diesem Buch sein zweites Motto gewählt: „Essenzielle Zufälle sind dadurch charakterisiert, dass zwei oder mehr Kausalketten, die voneinander unabhängig sind, zusammentreffen. Ein solcher Zufall hat also mehr als eine Ursache.“

Tatsächlich finden sich in Insayifs Band Gedichte, die wie Ketten aussehen: ein bis zwei Wörter pro Zeile, über bis zu vier Seiten verlaufend. Im Wort Zufall steckt der Fall. Und da Insayif dazu neigt, Wörter in ihre Bestandteile zu zerlegen, oft mit einem Zeilensprung dazwischen, um ihre tiefere Bedeutung herauszuschälen, handelt sein Band auch vom Fallen.

Im Klappentext gibt er freundlicherweise eine Leseanleitung für diesen mit: „… in diesen gedichten soll unter anderem der moment untersucht werden, in dem der eindruck des zu fallens entsteht. von einem moment auf den anderen verändert sich dabei die wahrnehmung eines subjektes“, beginnt seine Selbstinterpretation, die weiters die Begriffe „versunken sein“, „auf horchen“, „ergriffen sein“ ins Spiel bringt. Der „zustand gleichschwebeder aufmerksamkeit oder totaler abgewandheit von dem was sich ankündigt oder eben zu fällt“ wird dabei als eine „gute voraussetzung“ beschrieben, „um gedichte zu schreiben oder auch zu lesen …“

Innenschau und Beziehungen

Worauf das lyrische Ich horcht, ist aber weniger die Welt als das Innen. Deswegen enthalten die Gedichte des Bands auch wenig Bezug auf Dingliches, auf konkrete Gegenstände, ja nicht einmal die Natur. Sie erkunden das Verhältnis des Menschen zu sich selbst und zu anderen – und natürlich das Wesen der Sprache. Und nehmen dabei die verschiedensten Formen an.

Kurzgedichte mit drei, vier oder fünf Zeilen gibt es hier, Halbseiter, ein paar Mal sogar die klassische Sonettform sowie eine weitere Art von Ketten: Ein Satz, der in der Mitte einer leeren Seite quer läuft und meist den Charakter einer Sentenz oder sogar eines Interpretaments annimmt.

mein ich ist ein raum der sich selbst vermisst

jeder mensch kreist um etwas unaussprechliches

der anteil des menschen an sich selbst scheint unberechenbar

Wenn Dichten von Verdichtung kommt, erlangt Insayif in seinen kürzesten Gedichten die größte Meisterschaft:

nichts 
ist
nur
es 
selbst


Oder:

jedes herz
ist
für sich
allein
ist es
nie

Geht es zu Beginn, wie von Titel und Klappentext versprochen, noch um Zufälle und Fall-Momente, so taucht bald ein Du auf:

möchte gern
ein stück
von mir
im sand
(verlieren)
im schnee
(vergraben)
dass 
vielleicht
irgendjemand
(dass vielleicht)
du

Dieses gewinnt schnell an Bedeutung und ergänzt die innere Welt. Ja, ruft regelrechte Liebesgedichte hervor:

ohne dein gesicht
ohne deine stimme
ertrinke ich
mit offenem mund
an der welt

Sprech- und Schreibakte

Auch der Sprech- bzw. Schreibakt als solcher wird thematisiert – vielleicht ein Kennzeichen von Lyrik an sich, die immer auch ihr Gemachtsein miterzählt. Im ersten Gedicht des Bandes liegt der Mond „dir auf der zunge“ und „die sprache folgt später“. Einmal heißt es, das Ich habe sich „sprach / gewebe / als probe / schrift / entnommen“. Und in berückender Verdichtung wird der Weg des Worts zur Hand evoziert.

See Also
Cover "Haus ohne Türen" von Andreas Unterweger

das wort
ist 
die verlängerung
meines atems
zu meiner hand

Natürlich werden alle diese Felder von Insayif auch zusammengeführt. Das Unglaubliche und Ungewöhnliche und damit im alten Wortsinn Tolle an diesen Gedichten ist, dass man sie gar nicht zu interpretieren braucht, weil sie sich selbst offenlegen. Aber das in so vielen, so schillernden Bedeutungen, dass es die Rezensionslänge überschreiten würde, hier auch nur beginnen zu wollen, diese wiederum in Worte fassen zu versuchen. Das gilt sogar für die Sentenzen, die doch dingfest zu machen scheinen, was Sache der Dichtung ist, und einen doch in einen Sog des Weiterdenkens und Weiterempfindens taumeln lassen, der Lust bereitet.

„jedes wort ist ein wiedergefundener ort eines abgesunkenen seins“, heißt es in einer der erwähnten Sentenzen gegen Ende des Bands. „jeder mensch kreist um etwas unaussprechliches“ in einer anderen. An diese Orte, in diesen Strudel, der einen fallen lässt und auch wieder nach oben zurückhebt, lässt man sich von dem Sprachmagier Insayif gerne locken.

Er nimmt einen bei der Hand, auch wenn er einen ins Ungewisse führt. Nur an wenigen Stellen, wo Insayif, der 1965 in Wien geborene Autor mit familiären Wurzeln im Irak die arabische Schrift verwendet, hätte man sich gewünscht, zumindest in einer Fußnote zu erfahren, worum es da geht – und ob der arabische Text nur eine Übersetzung oder gar Erweiterung des Deutschen darstellt. Aber dann erinnert man sich an Insayifs Performances, wo man beinahe meinte, den gutturalen Lauten der unbekannten Sprache selbst eine Bedeutung zuschreiben oder aus ihnen heraushören zu können. Und sagt sich: Sei’s drum. 

Das Unverfügbare

Insayifs Definition des Gedichts aus diesem Band enthält nicht umsonst den Begriff des Unverfügbaren.

ein gedicht
spricht nicht
zeigt nicht
weiß nicht
ahnt
schweigt
schläft
wachsam
ist
licht
partikel
teilchen
vom
(unverfügbaren)
ganzen
bricht ab ein
und durch
aus deinen worten
steigt rauch auf
bis heute
weiß ich nicht
ob weiß grau
oder schwarz

Ihr ist an dieser Stelle nichts mehr hinzuzufügen. Außer vielleicht die drei letzten Seiten des Gedichtbands mit quer laufenden „Ketten“ folgenden Inhalts:

an jedem rand der sprache wartet ein gedicht als mitte

„Alles in der Welt endet durch Zufall und Ermüdung“ Heinrich Heine

du musst schon selbst schreiben um geschrieben zu werden

Danach bleibt nur noch zu behaupten, dass man nie müde werden wird, diesen Band wiederzulesen. Oder sich von ihm angesport fühlt, ihn selbst weiterzuschreiben.


Semier Insayif: vom auf horchen und zu fallen. Klever, Wien, 2025. 148 Seiten, Euro 20,–

Scroll To Top