Klaus Ebner liest Andrea Zanzottos Haiku für eine Jahreszeit

Der im Klever Verlag erschienene Lyrikband des Italieners Andrea Zanzotto ist dreisprachig. Sowohl die englische als auch die italienische Version stammen vom Autor. Dabei wurden die Gedichte zuerst englisch geschrieben und später von Zanzotto in seine Muttersprache übersetzt. Die deutsche Übersetzung stammt von Theresia Prammer.
Cover © Klever Verlag
Andrea Zanzotto (1921–2011) war Dichter, Übersetzer, Drehbuchautor (unter anderem für Federico Fellini) und Essayist. Ebenso wie der Vater wurde er Antifaschist und betätigte sich gegen Ende des Zweiten Weltkrieges im italienischen Widerstand. Er studierte Literatur in Padua und lernte sogar Deutsch, um Klassiker wie Goethe, Hölderlin und Heine im Original lesen zu können. Zanzotto zählt zu den bedeutendsten italienischen Lyrikern des 20. Jahrhunderts und pflegte Kontakte zu Giuseppe Ungaretti, Eugenio Montale, Salvatore Quasimodo, Italo Calvino und anderen. Er publizierte Lyrik und Essays, schrieb für italienische Zeitungen wie den „Corriere della Sera“ und übersetzte aus dem Französischen. Bereits im Sommer 1984, in einer Phase schwerer Depression und einer Schreibkrise, begann er an den Haiku zu arbeiten. Diese, in zwei Sprachen verfasst, beschäftigten ihn daher mehr als zwei Jahrzehnte. Die gesamte englisch-italienische Sammlung erschien erst ein Jahr nach Zanzottos Tod, und zwar in Chicago.
Die Übersetzerin Theresia Prammer wurde 1973 in Niederösterreich geboren. Sie ist Romanistin, Autorin, Übersetzerin und Essayistin und übersetzt aus dem Französischen und Italienischen. Am Institut für Sprachkunst in Wien ist sie als Dozentin tätig. Prammer lebt überwiegend in Berlin. Neben der Übersetzung der Haiku steuerte sie zum Buch auch den Essay „In der Landschaft / schläft die Schrift“ zu Zanzottos Haiku-Produktion bei.
Zanzottos Haiku entstanden, wie bereits erwähnt, über einen längeren Zeitraum. Dass sie manchmal geradezu unerwartet auftauchten, beschreibt der Autor folgendermaßen:
Haiku eines unerwarteten Morgens vielleicht meiner – vielleicht Winke oder Flüstern aus entfernten Universen
Die ersten Publikationen Zanzottos orientierten sich an einer hermetischen Lyrik ganz im Sinne Ungarettis und Montales. Später wandte er sich vom Hermetismus ab und verfasste eine klarere und teilweise elegische Lyrik. In den Haiku erkennen wir durchaus beide Einflüsse.
Lockere Formen
Viele Gedichte, die außerhalb Japans als Haiku bezeichnet werden, halten sich nicht sklavisch an die Vorgaben der Gedichtform, sondern nähern sich dieser lediglich an. Aus diesem Grund haben zahlreiche anderssprachige Haiku nicht exakt siebzehn Silben, sondern etwas mehr oder in Einzelfällen sogar weniger, und die in klassischen Haiku verlangten Bezüge zu Jahreszeiten fehlen häufig. Zanzottos Gedichte sind hier keine Ausnahme, und deshalb bezeichnete er sie auch als „Pseudohaiku“, wie dem Nachwort der Übersetzerin zu entnehmen ist. Eigene Titel für die einzelnen Gedichte gibt es keine, und die Texte orientieren sich mehr oder weniger nahe an der klassischen Haiku-Form; zumeist sind etwas mehr als 17 Silben vorhanden, und vereinzelt gibt es sogar Vierzeiler. Viele Gedichte, die außerhalb Japans als Haiku bezeichnet werden, halten sich nicht sklavisch an die Vorgaben der Gedichtform, sondern nähern sich dieser lediglich an. Aus diesem Grund haben zahlreiche anderssprachige Haiku nicht exakt siebzehn Silben, sondern etwas mehr oder in Einzelfällen sogar weniger, und die in klassischen Haiku verlangten Bezüge zu Jahreszeiten fehlen häufig. Zanzottos Gedichte sind hier keine Ausnahme, und deshalb bezeichnete er sie auch als „Pseudohaiku“, wie dem Nachwort der Übersetzerin zu entnehmen ist. Eigene Titel für die einzelnen Gedichte gibt es keine, und die Texte orientieren sich mehr oder weniger nahe an der klassischen Haiku-Form; zumeist sind etwas mehr als 17 Silben vorhanden, und vereinzelt gibt es sogar Vierzeiler.
Süß-saurer Blütenflug Freiheit, die Arten von Weiten erschafft – nichts mit niemand im Zwist
Alle drei Sprachen sind auf einer Seite versammelt. Eine Anordnung, bei der die jeweils nächste Sprache etwas eingerückt wird, vermittelt den Eindruck einer Kaskade. Beim folgenden Haiku, das im Englischen die japanische Siebzehnsilbigkeit einhält, sieht das so aus:
Parallel worlds, roots of vitreous deep languages – bubbles weep in throats Mondi paralleli, radici di vitrei profondi linguaggi – bolle piangono in gole Parallelwelten, Wurzelwerk gläserner Tiefensprachen – Blasen, die in Kehlen weinen
Andrea Zanzotto beschäftigte, als er Mitte der Achtzigerjahre begann, an diesen Texten zu arbeiten, die Gefahr eines etwaigen Verstummens. Die Form des Haiku reduziert Sprache auf ein Minimum, und auch die syntaktische und lexikalische Eigenart des Englischen kam dem Autor bei seinen Überlegungen sehr entgegen. Wohl aus diesem Grund entstanden die Gedichte zuerst auf Englisch und wurden erst später von Zanzotto selbst ins Italienische übertragen.
Ephemere Gedanken
Andrea Zanzotto hatte sich auch als Kritiker mit der Form des Haiku auseinandergesetzt. Er schätzte die knappe, lyrische Form und empfand die Gedichtzeilen als etwas Tänzerisches, da man mit wenigen Worten eine ungeheure Dichte und Vielschichtigkeit erzeugen kann. Sperrig-Hermetisches steht neben leicht Zugänglichem, manches wird wiederholt evoziert. So taucht der Mohn mehrmals auf, der Wonnemonat Mai spielt eine gewichtige Rolle, „Kirschbaum“ oder „Regenschirm“ liebäugeln wohl mit surrealen Effekten.
Viele Gedichte klingen für mich sehr persönlich: kurze Aufzeichnungen, gar Notizen, Minimaltexte, die sich kaum in etwas Größeres einordnen lassen. Oft sind es ephemere Gedanken und zufällige Beobachtungen, die allerdings durch das Festhalten im Haiku ihrer Vergänglichkeit entzogen wurden.
Dunkle, elektrische Wolkenbank: kein Auge kann die Verbrechen der Eklipse gegen die Sonne aufdecken
Auch gesundheitliche Probleme, mit denen der Autor in jungen Jahren zu kämpfen hatte, kommen zur Sprache:
Blütenblätter Pusteblumen Nasen erwachen zu Niesen alles ist Allergie
Der obige Text brachte mich ja zum Schmunzeln. Da wurde doch tatsächlich die jährlich erlittene Pollenflugzeit der Heuschnupfenallergiker auf ein Haiku verknappt!
Zanzottos Haiku zählen zum Alterswerk des Autors, und die Tatsache, dass er im Gegensatz zu seinen anderen Publikationen so viele Jahre an diesen Texten gearbeitet hat, vermittelt ihnen eine Art Sonderstellung innerhalb des lyrischen Werkes. Zudem lagen zwischen dem englischen Original, ich möchte es „Erst-Original“ nennen, und der Übertragung ins Italienische, dem „Zweit-Original“, mehrere Jahre, merkt Theresia Prammer in ihrem Essay an. Dass durch diesen Abstand eine vertiefende Reflexion stattfand, die sich möglicherweise auch in einer behutsamen Überarbeitung der englischen Verse niederschlug, würde ich durchaus annehmen.
Zum Abschluss noch ein Gedicht in allen drei Sprachen:
Poppies, no drops of innocent blood no funny flashes of wheat: wildly sweet the world kisses me Papaveri, non gocce di sangue innocente nessun guizzo scherzoso nel tappeto di grano: selvaggio e dolce mi bacia il mondo Mohn, nicht Tropfen unschuldigen Blutes kein lustiges Flitzen im Kornteppich: Wild und süß küsst mich die Welt
Theresia Prammers exzellente Übersetzung trifft einerseits genau den Ton der beiden Originale, andererseits fügen sich die deutschen Verse perfekt in die lyrische Gesamtheit ein. Der Gedichtband erschien als Broschur im Klever Verlag, und der reichhaltige Anhang, der nicht nur Prammers Essay, sondern auch zwei theoretische Texte von Zanzotto enthält, rundet diese handliche Ausgabe in perfekter Weise ab.
Andrea Zanzotto: Haiku für eine Jahreszeit. Englisch und Italienisch: Andrea Zanzotto. Übersetzung: Theresia Prammer. Klever Verlag, Wien, 2025. 110 Seiten. Euro 20,–