Alexander Peer liest Lydia Steinbachers Neue Tage

Bei vielen Bildern von Lydia Steinbachers Band Neue Tage ergeht es mir wie einst beim Versuch, Fische mit bloßen Händen zu fangen. Im gebirgigen Flussbett stehend, die bissige Kälte über die Waden emporklettern fühlend und gleichzeitig gebannt auf dieses kreiselnde Etwas unter der Oberfläche des Wassers blickend. Im Kopf verdichtete sich dabei das Ziel: Mit gekonntem Kniff würde es mir schon gelingen, den Fisch zu packen.
Cover © Septime Verlag
Jedoch: Oft ergab sich nicht einmal ein flüchtiger Kontakt, eine abweisende Pranke des fliehenden Fisches musste ich schon als lächerlichen Erfolg verbuchen.
Auch in Steinbachers Lyrikband scheinen mir so viele Bilder zu funkeln. Sie bewegen sich durch die Texte wie flinke Fische, tauchen auf und verschwinden wieder, kaum dass ich einmal innegehalten habe, um darüber nachzudenken. Sie haben vielmehr mich am Haken und nicht umgekehrt, weil ich meine, sie wären unter der Oberfläche doch fassbar, ich müsse nur zugreifen. Gelänge es mir, dieses oder jenes glitschige Bild in meine entschlossenen Hände zu nehmen, würde ich es schon auf das Ufer des Verstehens heben.
Aber dann entziehen sich die metaphorischen Fische Lydia Steinbachers, und ich stehe im Buch wie im eisigen Fluss. Gewiss ist, es handelt sich nicht bloß um eine Art. Wäre es die Bachforelle, könnte ich sie mir durch die Wiederholung als solche erschließen, ich könnte Vergleiche anstellen, wüsste etwas über die Identität. Es tummeln sich hier allerdings so viele verschiedene Arten, dass es mir erscheint, nicht alle seien heimisch. Vermutlich ist es außerdem ein Trugschluss, dass es sich um Fische handelt.
Wie eine Erlösung taucht im Gewässer dieser Poesie das Gedicht „Heimkehr“ auf:
(…) Du fragst ob ich hungrig bin doch du streckst nur die Zunge heraus am spitzen Ende ein Kristall deine Kälte glänzt Du sagst es ist lang her der Ort ist zur Gänze besetzt vereinzelt sterben die Rehe am Feld der Mond der weiße Schattengeber Du bittest mich zu gehen obwohl ich nie gekommen bin auf allen Stufen die stechende Leere eines verflogenen Vogels
Wie sehr man die einzelnen Motive als romantisch bezeichnen will, ist nicht entscheidend, entscheidend ist die Einheitlichkeit der Bilder durch die Bezüge zu einer Heimat, die man verlassen muss, will man sein Leben bewahren. Es ist ein Schmerz, der sich in verschiedenen Sujets äußert. Im gleichen Gedicht findet sich dieses Bild: „wir stehen in einem Nebelgewand, am Beginn der Stufen“. Dieses Nebelgewand streifen diese Gedichte immer wieder über. Zwar finden sich Bezüge zu Landschaften, es finden sich allerlei Vogelarten, Tiere und die Pflanzen mischen sich auch poetisch ein. Es sind Wald- und Wiesen-Orte. Es ist das Gewässer, auf das wieder und wieder Bezug genommen wird, und doch weiß man selten, wo genau man sich befindet. Wo soll man da also anfangen, um diese hermetischen Texte enthüllend zu bedenken?
Einmal fange ich an Ein jahrelanges Nachrichtenhinterlassen jedes Wort immer danach ich tauche nach Steinen im Fluss hier sind die Adern und Versteinerungen hier habe ich dich belehrt ich lege die Hand auf den Grund Aber einmal fange ich an unsere Sprache zu vergessen und jedes Zeichen stirbt mir in der Hand die späte Fremdheit niemals in dieser Echtheit vorgestellt falsch übersetztes Flüstern bis demnächst Eines Tages findest du im Scheitholz mein offenes Buch und ab und zu im Uferwald durch die Blätter liest du mir in irgendeiner alten Sprache meine Träume und meine Fehler heraus
Wenn die Zeichen in der Hand sterben, dann haben die alten Benennungen ihre Kraft eingebüßt. Sie können nichts mehr bezeugen. Ihr Inhalt ist leer. Neue Tage müssen wohl insbesondere solche sein, die die ausgetretenen Pfade der Metaphorik hinter sich lassen, um vital sein zu können. Schließlich appelliert auch dieses Gedicht an einen inneren Wandel durch Verstehen. Das „offene Buch“ im „Scheitholz“ ist eines vor dem Buchdruck, es sind Blätter, die vor dem Beginn der Aufzeichnungen zu finden sind, und die alte Sprache meint wohl eine Ursprache, die womöglich lange vor den indoeuropäischen Sprachen die Dinge zu bezeichnen wusste. Erst dann lassen sich die Träume und auch Fehler als solche erkennen. Begleitet sind die Gedichte von Illustrationen der Autorin: Sie zeigen beispielsweise durchlöcherte Blätter oder dürre Äste und ergänzen diese Texte programmatisch. Auch diese visuellen Zeugnisse erweisen sich als flüchtig.
Erweiterte Sinneserfahrung
Ganz am Beginn dieses opaken Bandes findet sich ein Verweis auf das Tintinnabulum. Das ist ein Gegenstand für Zeremonien. Es handelt sich um ein Glöckchen unter einem Seidenschirm, das Priester auf einer Tragstange hochhalten und mit leichtem Gebimmel damit eine Gruppe anführen. Etwas Magisches geht von dieser akustischen Autorität aus. Es schälen sich aus dem Licht die Gestalten, aber dann stellt sich die Frage, wohin gehen wir überhaupt? Explizit stellt Steinbacher im ersten Gedicht die „Frage woher das Nachhausegehen kommt“.
Novalis’ berühmte Antwort auf die Frage, wohin wir gehen, lautet bekanntlich: „Immer nach Hause.“ Der ganze Band scheint sich in einen Dialog mit einer anderen Welt, einer in der Wirklichkeit verpackten, rätselhaften Welt begeben zu wollen. Ein Indiz dafür liefert das titelgebende Gedicht, dessen Anfang so lautet:
Es ragt den Frauen und Männern unbeherrschbar aus der Hand das Neuerworbene ist ungezähmt und wandelt seinen Zweck nur ein Philister zittert an dem Übertritt zu neuen Tagen Schon umgepflügt stößt dieses Feld den Schmerz von sich wenn jetzt die Feder in die Städte leere Fluren schreibt Zeit und Waffe ändern ihre Richtung mit den Bösewichten
Dieser Ackerbau einer neuen Weltbetrachtung führt allerdings mehrfach zu beinahe babylonischem Bildersturm, der sich bei aller Liebe zum anarchischen und rhetorischen Übermut nur als Collage verstehen lässt und nicht als eine Verbindung innerer Art. Die zweite Strophe des Gedichts „Aufbruch“ ist dabei stellvertretend für etliche andere zu werten:
Jemand streckt einen Stock aus dem Paravent ein Fremder ohne Wagen ohne Spezerei ja ohnehin zu alt für diesen Streich – ein Bellen Einbildung wie vor dem Wiesenstück: hier könnte es sein im kurzen Blick zurück, der Krokus blüht sich frei (dormante Zwiebeln in der Tasche) häng uns nicht ab! grauer Mantel am Pfade durchs trockene Geäst
Gierig greife ich nach dem Stock und möchte mit dem Fremden, der einem Schalk ähnelt, gerne Streiche üben, aber dann frage ich mich, weshalb ich dazu einen Wagen brauche und was diese Zwiebeln zu bedeuten haben? Schlummern sie deshalb, weil sie noch ihre besten Tage vor sich haben und erst austreiben müssen, ebenso wie der Schalk austreiben muss, um seine Streiche konsequent zu praktizieren? Zwar steht auch der Krokus wie so viele Pflanzen in der Mythologie für den Wandel, aber dann bleibt mir das Bild zu kryptisch! Nach dem Lesen dieses Gedichts am Zenit des Tages mache ich mir launisch ein Safranrisotto, um mich mit dem Krokus wieder zu versöhnen.
Manchmal ist das Bohren in diesen Gedichten amüsant und verführt zu verwegenen Bildern. Aber oft ist es mühsam, so ganz ohne hilfreichen Kompass durch die Felder zu streifen. Am stärksten ist Steinbachers Band in einigen klaren Bildern und den stringenten Gedichten. Sie lassen immer noch genug Spielraum für Interpretation, sie legen ein Bild an, deuten es aber nicht aus. So wie hier:
An meinem Grab gesprochen Höre ich deine Stimme wie schon lange nicht als hättest du mich tränenweich von einer Unternehmung ausgeschlossen
Da erschließt sich mir die ganze Tragik der Zurückgelassenen, die weiter ein Leben führen müssen und doch der oder dem Verstorbenen verbunden bleiben, sich schwer lösen können und eine neue Zuneigung oder gar wiedergewonnene Lebensfreude als Verrat auffassen. Umso mehr, wenn dann erst der Abschied so richtig ins Herz fährt und ein anderer Lebender den Toten verdrängt und fast vergessen lässt.
Gedichte sind nicht verpflichtet, seismographisch Befindlichkeiten festzuhalten, aber sie profitieren von einer emotionalen Richtung und einer Bilderwahl, die sich dialogisch und deutbar verhält. Gut zeigt sich das an diesem Beispiel:
Im Café am Kathedralenplatz Ich blase ein Loch in den Milchschaum zwei Kinder spielen im Kathedralenschatten jeden Abend löscht er den Platz man lässt mir den Stuhl und den Tisch die Kinder laufen ihre Bahnen und keine Bahn um mich ich sitze in den Sommer durch den Herbst und überhaupt viel länger die Kinder sind schon keine Kinder ich sehe sie im Brautgewand vorm Kathedralentor die Tauben plustern ihr Gefieder sie altern scheinbar nicht ich zahle für die vielen Jahre einen hohen Preis
So klar und dennoch anspielungsreich sind manche dieser Gedichte, sie beruhigen neben dem flirrenden Bildersturm, der mich manchmal taumelnd niedersinken lässt. Doch einige Male fasse ich tatsächlich ins tiefe Wasser, wo mir ein goldglänzender Fisch freudig entgegenschwimmt und gierig in meine Hände flüchtet:
(…) ich huste mir die Seele in das Nachttischlicht du lässt es noch ein bisschen hell bis jetzt.
Lydia Steinbacher: Neue Tage. Septime, Wien, 2024. 120 Seiten. Euro 18,–