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Erinnerungslyrik

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Klaus Ebner liest Konstantin Kaisers Ausgedehnte Gegenwart


Der Titel Ausgedehnte Gegenwart erinnert an Theodor Kramer, von dem eine Rede gewissermaßen als Vorwort aufgenommen wurde. Auf diesen Dichter bezieht sich auch das erste Gedicht, das selbigen Titel trägt. Konstantin Kaiser erweist dem von ihm hoch geschätzten Kramer somit seine Reverenz.

Cover © edition lex liszt

Thematisch setzt sich dies in den Geschichten – denn Kaisers Gedichte erzählen Geschichten – über zahlreiche Einzelschicksale, jüdische und andere, und Erinnerungen an überaus unselige Zeiten fort. Konstantin Kaiser wurde 1947 in Innsbruck in eine sozialdemokratische Familie geboren. Dies und das konservative Tiroler Umfeld prägten ihn und seinen Bruder, den Maler Leander Kaiser. In Wien schloss er sich dem Kreis um Robert Schindel an. 1977 gründete er den Arbeitskreis Antifaschistische Literatur. Dieser Thematik blieb er treu. In den 1980er-Jahren war er freier Mitarbeiter des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstandes. Er lernte das Werk des Lyrikers Theodor Kramer kennen, das für ihn sehr bedeutend wurde. So war er etwa Mitbegründer der Theodor Kramer Gesellschaft, als deren Sekretär er bis 2024 fungierte. Kaiser studierte Philosophie, Kunstgeschichte und Politikwissenschaft. Seit 1983 ist er als freier Schriftsteller tätig. Exilforschung und Exilliteratur sind ihm ein großes Anliegen. 2007 gab er die Anthologie In welcher Sprache träumen Sie? Österreichische Lyrik des Exils und des Widerstands heraus.

Die Naziherrschaft wirkt nach, auch in den Erlebnissen und Erfahrungen des erst 1947 Geborenen, vermutlich aus den Erzählungen der Eltern und deren Freund*innen, die ebenfalls in der Sozialdemokratie engagiert waren. Diese Eindrücke schildert Konstantin Kaiser in „Nachricht vom Sohn des Alten Genossen“ folgendermaßen:

Konrad Wurm
war der Buchhändler der Büchergilde.
Wendelin Schöpf
werkte in der Neuen Heimat.
Ferdinand Kaiser
war Parteisekretär.
Die alten Genossen vom Schutzbund
trafen sich nie privat.
Sie hatten ein Geheimnis,
das sie verband
und voneinander trennte.
Auch einen Stolz hatten sie
und etwas, das ihnen den Mund verschloss.
Ich bin sprachlos ausgeliefert
ihrem Nichtgesagten.

Es sind Erfahrungen, die der Autor als Kind oder Jugendlicher mitbekommen haben muss. In diesem Gedichtband kommen sie in aller Eindringlichkeit zum Vorschein.

Sprachliche Annäherungen

Konstantin Kaisers Gedichte sind nie hermetisch, sondern flüssig und gut zu lesen und somit leicht zu verstehen. Es geht dem Autor definitiv um den Inhalt. Hier werden Geschichten erzählt, Erinnerungen wachgerufen und klare Ansagen gemacht. Kaiser hat kein Interesse daran, diese Botschaften in irgendeiner Weise zu verschlüsseln oder schwer zugänglich zu machen. Diese Art von Lyrik erinnert mich im Übrigen an die politische Lyrik der linken Parteien während der Zwischenkriegszeit, etwa an jene von Jura Soyfer. Da wie hier ist der Text leicht zugänglich, und es werden konkrete Personennamen genannt, oft sogar im Gedichttitel. Der folgende Auszug stammt aus „Hans Glaser“:

Kein Schmuck im Raum außer dem gerahmten Foto
des Gründers der Firma. Kommerzialrat Kallinger.
Bau und Immobilien.
Anders als Glaser Hans wurde Kallinger alt.
Vielleicht lebt er noch irgendwo heimlich.

Manche Gedichte verwenden die üblichen Satzzeichen, während andere völlig ohne sie auskommen. Ob die Texte etwa zu unterschiedlichen Zeiten geschrieben wurden, ist nicht ersichtlich. Jedenfalls ergibt sich bei jenen, die auf Satzzeichen verzichten, ein anderer Leseduktus; diese Verse wirken unruhiger, rascher, quirliger, in manchen Fällen sogar atemlos.

Macht der vergleichsweise einfache Zugang die Gedichte zur leichten Kost? Keineswegs. Denn was uns Konstantin Kaiser in seinen Geschichten erzählt, hat es mitunter in sich. Es geht um die Misere einfacher Menschen im rumänischen Alltag, um die Unterdrückung und Vernichtung der Sozialisten und Kommunisten durch den Ständestaat und die Nationalsozialisten, um KZ-Erfahrungen aus Mauthausen und Osteuropa, aber auch um Erinnerungen an Freund*innen und Weggefährt*innen. „So viel Laub. Herbst in St. Pölten“ spricht über den 2021 erst 58-jährig verstorbenen Schriftsteller und Krimiautor Manfred Wieninger, ein weiteres von der persisch-österreichischen Autorin Nahid Bagheri-Goldschmied.

Oft sind es auf den ersten Blick beiläufige Alltagsbeschreibungen, die dann durch einen kurzen, aber ganz konkreten Hinweis unterbrochen werden, etwa auf eine Krebserkrankung oder verschwiegene Tätigkeiten in einer SS-Division. Durch das geradezu Unschuldige, Beiläufige wirken solche Hinweise mit einer besonderen Wucht.

Ein ganz aktuelles Thema, nämlich der Krieg in der Ukraine und damit verbunden die russische Propaganda, welche die ganze Welt überzieht, findet sich in „Abschied“:

See Also

Wer nicht Schwarz-Weiß sah
nach Kvar Aza Butscha
Irpin Isjum und Kachowka
und nicht glauben wollte
an Folterkeller in Cherson
und nicht an die Toten von Kramatorsk
sah gar nichts mehr
stolperte blind in
die nächste verfügbare Falle

Dass ausgerechnet in diesem Gedicht keine Satzzeichen vorkommen, kommt nicht von ungefähr. Es ist einer jener atemlosen Texte des Buches, und diese Atemlosigkeit ist dem harschen Inhalt geschuldet.

Einprägsame Verse

Als ich Ausgedehnte Gegenwart zu lesen begann, hatte ich keine spezifische Erwartungshaltung. Sehr rasch aber entwickelten die Gedichte einen starken Sog, dem ich mich kaum entziehen konnte. Vieles wirkte ernst und melancholisch, die Anspielungen an die Diktatur und die Verfolgungen hinterließen ihren Eindruck. Kaiser schreibt in diesem Lyrikband mehrheitlich über schwere Zeiten, und schwermütig ist auch die Stimmung, welche die Verse zurücklassen. In einem Gedicht über die Angst heißt es:

Wer Angst kennt, ängstlich sich verkriecht
in dem Gehäuse einer Liebeswohnung,
in das Büro, das täglich ihn umschränkt,
der will hinaus und weiß doch nicht wohin.

Etwa in der Mitte des Bandes finden sich mehrere Gedichte in Erinnerung an Siglinde Bolbecher. Diese, Historikerin, Exilforscherin und Lyrikerin war Konstantin Kaisers Lebenspartnerin und Ehefrau. Die ihr gewidmeten Gedichte holen zum Teil lang zurückliegende Erinnerungen ans Licht, und sie sind, natürlich, sehr einfühlsam. In „Zwischen den Hinterhäusern“ heißt es unter anderem:

Zwischen den Hinterhäusern
die einst so schmale Linde
ist emporgewachsen
ein heiterer Turm

Den farbigen Überzug
den wir bestellten
für unsere alte Sitzbank
habe ich abgeholt und auch
die Wäsche

(…)

Die weißen Rosen in ihrem Pferch
auf der Terrasse gegenüber
sind braun geworden, doch der Stock
bereitet neuen Austrieb vor

(…)

Ein wenig drehe ich mich jetzt im Kreis
rede tags mit den Pflanzen
im Schlaf mit dir

O schönes, weites Tal
das ich in deiner Augen Schein betrat

Dich so geliebt

Ausgedehnte Gegenwart erschien in der burgenländischen edition lex liszt 12. Das broschierte Buch wurde vom Verlag gewohnt sorgfältig gesetzt und gestaltet; die bescheiden wirkende Aquarellzeichnung auf dem sonst weißen Cover stammt vom Autor.


Konstantin Kaiser: Ausgedehnte Gegenwart. edition lex liszt 12, Oberwart 2025. 92 Seiten. Euro 19,–

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