Lukas Meschik liest LYRIK ON LINE. Herausgegeben von Daniel Böswirth
Ab November 2024 wurden nichtsahnende Passanten in Wien Zeugen einer geheimnisvollen Aktion: Auf Leinen waren mit Wäscheklammern Gedichtzettel befestigt, die im Vorbeigehen betrachtet werden konnten und zum Verweilen einluden. Diese vom Dichter und Grafiker Daniel Böswirth erdachte und umgesetzte Aktion wanderte durch die Stadt, von der Kunstschule Wien zur Volkshochschule Hietzing, weiter in die Seestadt und in die Trötzmüllergarage im fünfzehnten Bezirk. Für seine poetische Intervention im öffentlichen Raum suchte Böswirth sich engagierte Mitstreiter, die ihn organisatorisch unterstützten, und vor allem zahlreiche Literatinnen und Literaten, die Gedichte beisteuerten.

Die bei fabrik.transit veröffentlichte Anthologie LYRIK ON LINE versammelt eine üppige Auswahl der Beiträge, dutzende Fotos zur Dokumentation runden den Band ab. Über 200 Schreibende lieferten großteils unveröffentlichte Beiträge, darunter so klingende Namen wie Franzobel, Peter Turrini oder Nicolas Mahler, auch aus Ländern wie China, Australien oder Kanada wurden Gedichte eingesandt.
Cover © Fabrik transit
Das vorliegende Buch beschränkt sich auf 152 Beitragende und reiht alle völlig gleichberechtigt aneinander, eben wie an einer durch den Raum gespannten Leine.
Der Name dieses dezidiert analogen Kunstprojekts ist geschickt gewählt, stellt es doch eine Gegenwirklichkeit zur digitalen Entfremdung dar. Die Gedichte finden sich eben nicht online, sondern on line, also an der Leine. Eine Aufwertung des öffentlichen Raums, frei nach dem Motto der Lyrik-Aktivisten aus dem Berliner Verlagshaus J. Frank: „Poetisiert euch!“
Oder in den Worten von Daniel Böswirth bei seiner Eröffnungsrede, gehalten bei der Finissage der Ausstellung „LYRIK ON LINE“ in der Seestadt Aspern bei Wien:
„Ich richte mich mit meiner Kunstaktion gegen den heutigen Zustand der nach ökonomischen Gesetzen an den Rand gedrängten Lyrik ebenso wie gegen die Selbstabschottung des Elitären.
Eröffnen wir den Dialog neu, setzen wir die poetische Intervention im öffentlichen Raum fort. VERZETTELT EUCH! VIVA LA POESIA! (…) Nur, weil wir nicht Autos oder Süßwaren produzieren, sondern Gedichte, haben wir auch ein Recht, in der öffentlichen Wahrnehmung präsent zu sein.“
hochgeklettert sitze ich im krähennest kalte ausschau in zeitlosgewordener zeit nach festland vogelleer alle himmel windlos atmende meereswellen kirschblütenrosa die zwischenwelt nichtwandelbarer zukunft Ilse Seifried
That all belongs together
Die Bandbreite der gezeigten Arbeiten ist erwartungsgemäß groß, rührselige Liebesgedichte finden sich hier ebenso wie Wortspiele und Kalauer; mal reimlos, dann wieder in strenger Form lässt die Lyrik ihre Muskeln spielen. Sie zeigt, was sie kann; und was einem persönlich entspricht, ist eine reine Geschmacksfrage. Einen motivischen roten Faden sucht man vergeblich, und der wäre hier auch völlig fehl am Platz, schließlich gab es keinerlei inhaltliche Vorgaben oder Beschränkungen. Das hätte dem zelebrierten Freiheitsgedanken nur widersprochen. Wenn es sanft anklingende thematische Wiederholungen gibt, dann bei Kritik an politischer Kleingeistigkeit und gefährlicher Beschränktheit – die hat bekanntermaßen leider immer Saison, manchmal mehr als sonst. Wo Spracharbeiter mit guter Laune sich ihr wacker entgegenstellen, hellt das die Stimmung immer etwas auf.
Willkommenskultur Now listen, you motherfucker you, and hör mir good zu: This country is not Australia. We are not shooting kangaroos and schleifen them kilometerweit durch die Wüste. This is a zivilisiertes country. Our Fleisch comes from animals, who live in peace and who are happy. Happy chickens! Never gehört davon? Bio-Flesh from the almen, that is Austria. Our Wurstsemmeln are the best in the world and the animals are proud to die for us, for us Austrians, who love animals. We love our dogs and we love our hot-dogs. That all belongs together forever. Forever Austria. And now schleich di, you neger you, and let me in peace! Kurt Palm
Niederschwellige Begegnung
Böswirth schien mit seiner Idee offene Türen einzurennen, das zeigt die Bereitwilligkeit, mit der man ihm Material zur Verfügung stellte, und die erfreuliche Resonanz bei Veranstaltungen. Er traf damit einen Nerv. Der öffentliche Raum ist eben ein Raum, der allen gehört – der allen gehören könnte –, bei dem es sich aber oft so anfühlt, als würde er keinem gehören. Wer traut sich schon, ihn für sich zu beanspruchen und auch nur subtil in Beschlag zu nehmen? Bestimmt zu wenige.
Nicht nur Menschen können sich missachtet und an den Rand gedrängt fühlen, sondern eben auch die Lyrik, die im kommerziellen Buchmarkt ein Nischendasein fristet, was Böswirth im Begleittext sehr treffend beschreibt. Eine solche Aktion kann eine zeitweise Rückeroberung des Raumes in doppelter Hinsicht bedeuten, sie ermöglicht eine niederschwellige Begegnung mit Gedichten, die manche nur in verstaubten Büchern vermuten.
Das Projekt zeigt aber vor allem, dass Lyrik nichts „muss“ und alles „darf“, sie muss nicht einmal aus Worten bestehen, sondern kann sogar gezeichnet sein, wie etwa beim Comickünstler Nicolas Mahler. Der Zugang zu Kunst, die viele als „unverständlich“ oder „mühsam“ abgespeichert haben, wird plötzlich spielerisch und unverkrampft. Gedichte sind auf diese Weise „einfach da“, werden so normal, wie sie sind. Sie gehören zum Leben wie Bäume oder Sträucher, vor allem, wenn sie Blätter haben und im Stadtwind flattern.
ein großer schritt ich stand vor dem mietshaus eines alten jugendfreundes zu dem seit seiner depression vor zwei jahren kaum jemand kontakt gehabt hatte aber ich wollte ihn sehen ... da schrieb ich ihm von der straße aus ein sms da er auf anrufe und mein läuten nicht reagierte und er ließ mich hinein in sein haus was ein kleines wunder war und ich ging drei stockwerke hoch in seine abgedunkelte wohnung (…) Daniel Böswirth
Herausgeber Böswirth hofft, dass sein Projekt eine Fortsetzung finden möge, dass die Aktion in Wien bloß die Initialzündung für weitere Aktionen anderswo sei – wir können nur gespannt mithoffen und es uns allen wünschen. Die letzten paar Seiten des Buches sind leer. Davor steht eine kurze Anleitung, eine poetische Aufforderung, eine Einladung, sich ebenfalls zu verzetteln. Wir sollten sie annehmen.
Nimm einen Stift, schreib dein Gedicht, reiß es aus dem Band und häng es in den öffentlichen Raum.
Daniel Böswirth (Hrsg.): LYRIK ON LINE. Anthologie der Kunstaktion. Edition fabrik.transit 2025.312 Seiten, 57 Fotos. Euro 19,–

