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Das Gedicht wirft Licht auf die Dinge

Das Gedicht wirft Licht auf die Dinge

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Andreas Pavlic liest Angelika Reitzers Blauzeug. Gedichte


Der erste Gedichtband der Schriftstellerin und Filmemacherin Angelika Reitzer trägt den Titel: Blauzeug. Der Opener des Buchs, der Text „Blauzeug permanent“, ist ein strömendes Gedicht, so wie eine Großstadt strömend ist, mit all ihren Geschichten, Begegnungen, Straßen und Plätzen. So wie es Rom ist, der Ort dieses Gedichts, durch das ich als Lesender wandle wie bei einem Spaziergang.

Cover © Limbus Lyrik

Ich begegne Frauen im Hof, die ihre Teppiche waschen und aufhängen, oder den Vögeln am Fluss auf dem Weg nach Trastevere. Ein Gedicht, das aus Aberdutzenden Schnappschüssen besteht, aus kurzen Begegnungen wie jener mit Mariano, „dieser leichten Liebe, die hin und her fliegt, ein Ball vielleicht“, aus Beobachtungen wie etwa über das breit gestreute Herbstlaub auf dem Gehweg und aus Reflexionen über Vergangenes, Verschüttetes ebenso wie aus Licht, Farben und alltäglichen Dingen, alltäglichem Tratsch. 

Ich bewege mich durch das Gedicht wie durch verschlungene und verzweigte Gassen eines Rionis, wie die Stadtteile in Rom heißen, mit all den Anspielungen – die von mir aufgenommen oder liegen gelassen werden können. Ich muss zugeben, die meisten intertextuellen Stellen im Text kann ich nur erahnen, so wie ich die Schichten einer Stadt wie Rom oft nur erahnen kann. 

Angelika Reitzer erzählt in diesem Gedicht von ihrem Aufenthalt in Rom in einer freien und assoziativen Form, mit Schnitten, Überlagerungen und Gleichzeitigkeiten. Sie verdichtet, und zugleich lässt sie das Gedicht fließen, jedoch nicht ruhig und rhythmisch, sondern ausufernd und mit Stromschnellen versehen.

„(...) Wir wollen mit elektronischen Geräten jeden Augenblick
	festhalten
aber unser Blick bleibt unscharf: wir sind die TOURISTIN-
	NEN vom Sonntagvormittag
streifen wie ausgewachsene KATZEN am Testacchio herum -
Blauzeug, blau: die Sonne scheint auf die geduldigen
	GESCHÖPFE
(jedes Tier passt haargenau auf einen sonnenbestrahlten
	Fleck) (...)“ 

Jetzt sind die anderen Jugendliche

Was sich in dem Gedichtband für mich durchzieht, ist eine Intimität, die durch Schilderungen von fast beiläufigen alltäglichen Geschehnissen und Reflexionen darüber entsteht. Egal, ob sie sich aus Erinnerungen speisen oder aus der Gegenwart. Ich glaube zu erkennen, wie die Autorin in ihrem Schreibprozess immer wieder neu ansetzt, abbiegt und weitergeht. „Reise? Ist es doch auch, wenn sie in einen Alltag hineinführt in eine Art Alltag, mit Wochentagen“, heißt es in einer Strophe im Gedicht „Darf ich das überhaupt zitieren?“. 

Das in den Gedichten immer wieder auftauchende Ich verleitet mich, die persönliche oder autosoziobiografische Dimension als solche auch anzuerkennen. In „Wahrnehmung, Anschauung, relative Dauer“ schreibt die Autorin über ihr Heranwachsen als Schreibende, über die Ermutigung, die sie erfahren hat – von einem im Gedicht nicht näher charakterisierten Du. Für mich strahlt der Text eine Wärme aus, vielleicht weil die Autorin Fragmente ihrer Selbsterzählung als Erinnerungen aus dem dunklen Vergangenen gezogen hat und sich daran eigene Aufbruchsgeschichten knüpfen lassen. Den Weg aus und zu einer eigenen Sprache noch einmal gehend. „Das Plätschern des Wassers, jetzt sind die anderen Jugendliche“, heißt es in einer Zeile, die dazu überführt, das Schreiben und das eigene Werden wieder an die Gegenwart zu binden, um es mit einer Schleife zu versehen, einem wohltuenden Diktum:

„(…) wollte ich ein Gedicht schreiben, ähnlich vielleicht jenem
das von den Pflastern von Granada ausgegangen ist
ein Gedicht für Fredy, der lange Zeit der einzige denkbare
	Grund dafür war
ein Gedicht über die Dauer jener erlaubten Identitäten, wie du
	gesagt hast
das Gedicht wirft Licht auf die Dinge
hebt sie heraus rettet“

Kennzahlen der Kunst

Der Band besteht aus einem guten Dutzend Langgedichten, ergänzt durch einen Anhang, der aus vier „lyrischen Indizes“ besteht. Dabei handelt es sich um die vier wohl wichtigsten gesellschaftlichen Kennzeichen. Die Gedichte sind betitelt mit: „Index 1 (Kindheit)“, „Index 2 (Wohnen)“, „Index 3 (Arbeiten)“ und „Index 4 (Demokratie, oder: die Finsternis aufhalten)“. Ungewöhnliche Motive für Gedichte, die gern von allzu politischen und sozialen Themen freigehalten werden. Angelika Reitzer jedoch scheut sich nicht, darüber zu schreiben. Sie legt ihre sozialen Situationen und Zusammenhänge offen, ohne dabei auf ihre poetische Ausdruckskraft zu verzichten, und reflektiert beispielsweise im Gedicht „Index 2 (Wohnen)“ die im Verlauf des Lebens eintretende Veränderung der Wohnverhältnisse anhand der zur Verfügung stehenden Wohnfläche, ausgedrückt in Quadratmetern und Anzahl der Mitbewohner:innen. 

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Sie spricht jedoch nicht nur über Wohnen, abgesperrte Haustüren, Möblierung, sondern auch über die Verdrängung von Obdachlosen aus den Städten. Mit den vier Indizes legt die Autorin sowohl ihre soziale als auch ihre politische Schreibposition offen. Im letzten Index („Demokratie, oder: die Finsternis aufhalten“) finden sich Begriffe wie „Arbeiterklasse“, „Kapitalismus“, „verzweifelte Rassisten“, „Finanzströme“ und „Hausarrest“. Ungewöhnliches Vokabular für ein Gedicht. Es handelt vom gesellschaftlichen Rechtsruck, dem permanenten Ausnahmezustand, der Abschottungspolitik und der Errichtung eines Polizeistaats. Schwerer Tobak für Poesie. 

Beim Lesen der Zeilen frage ich mich, ob die Abwehr und Angst gegenüber dem Politischen im Gedicht daher rührt, dass viele Leser:innen, Schreiber:innen und Kritiker:innen sich in ihrer politischen Unbedarftheit lieber ungestört einer lyrischen Verzauberung hingeben. Und ob deswegen explizit politische Gedichte gern in Verdacht geraten, nicht kunstfertig zu sein.

„ach, Sie hätten sich Kunst gewünscht?
Bekommen aber nur eine kleine Übung zum Abschluss:
um das nächste Level zu erreichen
bringen Sie die Wörter Fremde
Sesshafte lehren
lernen
in wechselseitige Beziehungen
Sie haben nur ein Leben.“

Mit eigenen Augen besehen

Warum aber der Titel Blauzeug? Warum Blau? Dass es die größte Farbe ist, darüber schreibt Angelika Reitzer im letzten Gedicht. Dieses handelt vom Meer, von der Dunkelheit, von grindigen Hühnern, einäugigen Katzen und nachtfarbenen Liedern, die sie ihrem Kind singen wollte. Die Stimmung im Text hat etwas Unheimliches und doch Verspieltes, zugleich lässt sie eine Geborgenheit erahnen. „Ich wollte dir sagen: Blau / unergründbare Farbe und / (…)“ so beginnt der erste Vers. Zwischen Himmel und Meer und der Umgebung des alltäglichen Lebens gibt es etwas, das wir nicht ergründen können, scheint Reitzer damit sagen zu wollen, dennoch versuchen wir es in seinen verschiedensten Dimensionen wahrzunehmen. So wie das Kind, das die Autorin im Gedicht anspricht und von dem sie schreibt:

„Es wird alles, alles mit eigenen Augen besehen“

Angelika Reitzer: Blauzeug. Gedichte. Limbus Lyrik, Innsbruck–Wien, 2025. 96 Seiten, Euro 15,–

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