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Zwischen den Sprachen, den Welten, im Zwiesinn

Zwischen den Sprachen, den Welten, im Zwiesinn

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Timo Brandt liest Chun Sues Tulip/Tulpen. Gedichte


Zusammen aufgereiht

am nachmittag ist mir fad
endlich les ich das buch
das mir vor einem jahr
jemand aus freundschaft geschenkt hat
ich les alle gedichte
traurig sein und betrübt
kommen ein paarmal vor
sex auch nicht wenig
große namen sind hasenlöcher
in der wildnis genau so häufig
ich les sogar meinen eigenen namen
und den von jemandem
mit dem ich früher beisammen war
das kommt davon dass wir alle dichter sind,
ai
Cover Chun Sue Tulip

Als Inspirationsquellen nennt die Dichterin und Romanautorin Chun Sue in einer kurzen Selbstverortung im Klappentext die amerikanischen Confessional Poets (die prominentesten Vertreter*innen sind wohl Sylvia Plath und Anne Sexton, heute weniger bekannt sind John Berryman und Robert Lowell), Charles Bukowski sowie Rock- und Punkmusik. Es gehe ihr, schreibt sie, vor allem um den Ausdruck des eigenen Selbst, später sei auch das Thema Mutterschaft immer wichtiger geworden. Vor allem aber sei ihr eine einfache, an der Alltagssprache orientierte Diktion wichtig, direkt und ungekünstelt.

Cover © Verlag fabrik transit

Bei manchen Dichterinnen können solche Agenden ja durchaus trügerisch sein; zudem kann es passieren, dass die vielen Dimensionen, die ein Gedicht hat (und die manchmal von den Autorinnen nicht beabsichtigt sind, sondern sich aus der Interaktion mit den Welten der jeweiligen Leser*innen ergeben), durch solche Aussagen auf einen Aspekt reduziert werden. Chun Sues Selbstauffassung/Absichtserklärung deckt sich aber in großen Teilen mit ihren Texten. Schnörkel- und manchmal auch atemlos, situativ, mit Emphase, aber ohne großes Pathos kommen sie wie kurze Selbstbetrachtungen/Selbstvergewisserungen daher, wie Notizen zu Erlebtem.

Thematisch behandeln sie neben einigen anekdotischen Erlebnissen vor allem das Leben zwischen Ost und West, zwischen Shanghai und Berlin/London/Wien. Auch einige Gedichte zu Mutterschaft haben es in die Auswahl geschafft. Weiterhin ist auch immer wieder Einsamkeit und die Suche nach Verbundenheit ein wichtiges Motiv.

Übersetzungsverwirrungen

Übersetzt wurden die Texte allesamt von Martin Winter, der sich in den letzten Jahren um Übersetzungen aus dem Chinesischen verdient gemacht hat; allein bei fabrik.transit erschienen in den letzten Jahren zwei Bände mit Übersetzungen von Yi Sha und die Anthologie „Brett voller Nägel“ (es soll hier aber auch die Übersetzerin Lea Schneider genannt sein, die sich ebenfalls in den letzten Jahren sehr verdient um Übersetzungen aus dem Chinesischen gemacht hat).

Bei diesem Band von Chun Sue (der Gedichte enthält, die Winter in den Jahren 2015–2021 übersetzt hat – geschrieben wurden sie laut den Datumsangaben zwischen 2001 und 2020), stoße ich allerdings allerorten auf kleinere Ungereimtheiten, was die Übersetzungen angeht.

Zunächst einmal liegt der Band in drei Sprachen vor. Während die chinesische Fassung eindeutig von der Autorin stammt, die deutsche eindeutig von Winter, war ich bei der englischen anfangs verwirrt: Waren dies eigene Übertragungen der Autorin? Im Internet fand ich dann einige der englischen Texte, mit dem Vermerk „Tr. MW“. Diese Frage war also geklärt, aber die Antwort warf eine neue Frage auf: Warum sind die Übersetzungen in Englisch und Deutsch so verschieden, wenn sie von derselben Person übersetzt sind? Hier bedarf es wohl eines Beispiels, um zu verstehen, was ich meine:

Traum vom Leben im Traum

Untertags fotografiert
in der Nacht ohne Schlaf.
Im Traum von Liebe geredet mit einem Feind,
mit einem Spion,
mit einer vom gleichen Geschlecht.
Mit jemanden, der mich streichelt.
mit jemanden, der mich belästigt.
Im Traum bricht kein Feuer aus,
hlt dich kein Schnee ein.
Von Liebe sprechen, oder auch töten,
Herzklopfen manchmal, gebrochenes Herz.
Im Traum in leuchtenden Farben gehen,
Gefühl kann herausschießen,
auch heißes Blut.

Dreaming of living inside a dream

taking pictures by day
then sleepless at night
in a dream with a foe
talking love
with a spy
talking love
in a dream, same-sex love
in a dream with the one who caressed me
in a dream with the one who harassed me
can’t be no big snow
in a dream, making love, shoot to kill
panicking, heart-broken
in colorful clothes
going round gushing feeelings or gushing blood

Ich sollte vorweg anmerken, dass ich kein Chinesisch kann und deshalb nicht in der Lage bin, einschätzen zu können, welche der beiden Übersetzungen näher am Original ist oder welche Aspekte des Originals sie am besten wiedergeben. Es fällt aber sofort auf, dass die beiden Übersetzungen anders gewichtet sind. Im Englischen ist „(talking/making) love“ ein zentrales, teilweise strukturierendes Element und kommt fünfmal vor – im Deutschen gerade zweimal und abgewandelt; ähnlich ist es mit „dream/Traum“. Auch an anderen Stellen zeigt sich, dass die Gedichte sich in ihrer Diktion unterscheiden und auch in der Ausdeutung des Inhalts.

Bei dem zitierten Gedicht wird diese Diskrepanz besonders deutlich, stellt aber keinen wirklichen Ausnahmefall dar. Immer wieder stoße ich auch in den anderen Gedichten auf Abweichungen und Wendungen, die mich stutzig machen, bspw. auch in dem ganz oben zitierten Gedicht (zu dem es keine im Buch enthaltene englische Übersetzung gib). Hier irritiert mich das „beisammen“. Ist „zusammen“ gemeint? Meint es „bekannt“ oder „befreundet“? Solche eigenwilligen, umständlichen, leicht enigmatischen Formulierungen gibt es immer wieder, vor allem in den deutschen Übersetzungen. Ein weiteres Beispiel ist das Titelgedicht:

Tulpe

See Also
Fels Ludwig mit mir hast du keine chance

die tulpe hängt runter
wie ein penis
gibt es etwas sanfteres
auf dieser welt?
diese gelbe tulpe
ich glaub sie sagt mir
ein geheimnis.
ich schau in ihre blüte,
streichle sie.
in dieser märznacht
erregt sie in mir
ein verzehrendes brennen.

nicht auszuradieren,
war früher so mager!
in dieser stunde
denk ich, dieser mensch,
daran wie menschen
erst ins leben kommen

TULIP

tulip hangs down
like a penis
are there any softer
things in this world?
this yellow tulip
wants to tell me
a secret
regarding a petal
gently feeling it
this night in march
it arouses
my inner desire

what can’t be erased
so skinny before
at this point in life
I long for the feeling
to be a new human
to be born in this world

Warum weicht Winter hier bei „my inner desire“ ab und wählt die doch reichlich sentimental klingende Wendung „ein verzehrendes brennen“? Warum nicht schlicht „(m)ein tiefes/tiefstes verlangen“? Von der verwirrend abgewandelten Endsequenz ganz zu schweigen.

Variation oder Variation

Aus zwei Gründen ist meine Kritik an den Übersetzungen mit Vorsicht zu genießen. Zum einen ist Winter mit der Autorin anscheinend persönlich bekannt (das letzte Gedicht des Bandes verweist sogar auf einen Besuch der Autorin bei ihm in Wien, zumindest aber auf nähere Kenntnisse, was dort auf dem Balkon blüht) und dürfte mit ihr über die Gedichte geredet haben. Zum anderen, und dieser zweite Grund ergibt sich aus dem ersten, könnten die unterschiedlichen Interpretationen in den Übersetzungen beabsichtigt sein. Vielleicht gibt es im Chinesischen Doppelbedeutungen, die sich in einer Übersetzung nicht wiedergeben lassen, und deshalb wurden die verschiedenen Möglichkeiten der Übersetzung in den beiden Sprachen ausprobiert (mit Billigung der Autorin oder sogar auf ihren Wunsch hin, möglicherweise).

Dennoch hätte ich mir dann ein paar kurze Ausführungen zu dieser Entscheidung gewünscht, in einem kurzen Nachwort des Übersetzers zum Beispiel. Überhaupt wären ein paar Anmerkungen gut gewesen (hinten im Buch befinden sich lediglich kurze Biografien der Autorin und der Illustratorin und ein Gedichtverzeichnis), die auch einige für westliche Leser*innen unklare Motive und Geschehnisse (historisch) einordnen. So sind manche der Gedichte auch schwierig einzuordnen, zu interpretieren, weil ich zumindest das Gefühl habe, es gäbe wichtige Backgroundinformationen.

Feststeht: Ohne solche Erläuterungen erscheinen die deutschen Übersetzungen sehr viel umständlicher und vor allem weiter entfernt von dem, was die Autorin als ihr Anliegen im Klappentext beschreibt. Zudem, auch das fällt auf, legen sie mitunter eine verwirrende Interpunktion an den Tag (im ersten Gedicht ein irritierendes einzelnes Komma vor dem Schluss; im zweiten eine ordnungsgemäße, durchgehende Interpunktion; im dritten eine, die erst ab der Hälfte konsequent betrieben wird). Die englischen Fassungen allerdings sind in meinen Augen durchwegs gelungen, zumindest wirkt es bei ihnen so, als würden Form und Inhalt, Botschaft und Poetik übereinstimmen.

EXHIBITION

you know the smallest number of people who ever came to my exhibition?
four.
myself, the gallery boss, a friend of mine 
who came all the way from denmark
and an old guy
who was lost.
he lived next door in a home,
mixed up the entrance,
walked in,
saw one painting,
bought it right away,
saying, “this is me!”

Chun Sue: Tulip/Tulpen. Gedichte. Chinesisch/Deutsch/Englisch. Übersetzt von Martin Winter. Mit Zeichnungen von An Qi. Fabrik Transit, Wien, 2022. 126 Seiten. Euro 13,–

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