Now Reading
Ein Staunwerk

Ein Staunwerk

Logo Besprechung I

Olivia Golde liest Natalie Deewans Lucida Console


Wir könnten meinen, Natalie Deewan habe mit »Lucida Console« ein Lebenswerk vorgelegt – wüssten wir es nicht besser: Die hört noch lange nicht auf, sie läuft sich gerade erst warm. Eine Dehnübung, ja, das ist dieses kreischgelbe Buch. Auf sprachlicher Ebene windet sich die Zunge beim Lautlesen (und bitte tun Sie das!) zwischen mindestens drei Sprachen, inhaltlich bleibt allen kurz die Luft weg: kein eigenes Wort, alles Zitate. Potzblitz!

Cover © Klever Verlag

Cover Deewan Natalie Lucida Console

Kon • Text

Aber einen Schritt zurück: Natalie Deewan ist in Wien beheimatet und in der Lyrikszene wohlbekannt mit ihren »Wiener Leerstandsanagrammen«. Nun hat sie ihr Debüt vorgelegt und „Lucida Console“ wirkt wie eine Einlösung des gesellschaftlichen Gesprächs auf poetischer Ebene, auf das manche, wie wir, so sehr warten. An dem wir teilhaben, ohne Überblick und Megaphon. Da eröffnet sich der Text auch gleich selbst mit einem vielleicht königlichem Wir: „everything and a half we have learned so far“. Und was beginnt wie eine lipogrammatische Zwangsneurose auf Repeat, öffnet dann tatsächlich seine Arme und Beine zu einer x-umspannenden Auseinandersetzung mit dem Material der Gegenwart im Dumpstermodus.

Und auf welcher Seite stehen Sie? 1310

Wer es schafft, entgegen gesetzte Regime gleichzeitig zu verprellen,1311

zeigt, dass eine unorthodoxe Vorgangsweise in manchen Bereichen 
Nischen eröffnet und brauchbare Lösungen anbietet, die mit den
 herkömmlichen Denkansätzen und Methoden etwa in der 
Wissenschaft, im Sozialwesen oder in der Ökologie sonst nicht
 erkannt worden wären.1312

Wenn wir also wirklichen politischen Wandel herbeiführen wollen, 
schlägt sie – ich zitiere – “einen strategischen Gebrauch eines
 positivistischen Essenzialismus in einem peinlich genau sichtbaren 
politischen Interesse” vor.1313

Sie sehen, auf den Punkt genäht. Da haben wir auch gleich die Fußnoten. Wer spricht? Die Autorin stellt vor: Es gibt mindestens zwei Lesarten des Buches. Eine ‚romantische‘ – im Gespräch hüpfend nach Lust und Laune – oder aber auch eine eher ‚archäologische‘ – indem die Leser:in die Zitatquellen nachschlägt (1310 Misik 30.7.2006, 39.; 1311 Roedig 20.10.2010, i.; 1312 Wochenklausur, i.; 1313 Buden/Steyerl 2006, i.). Damit nicht genug, gibt es als Angebot auch noch fett markierte Stellen, die, je mit einem Symbol versehen, Themenfiguren performen, denen sich ebenso folgen ließe. Ja, jede Labyrintherbauer:in würde vor Neid erblassen. Seit kurzem ist das Buch übrigens auch digital zugänglich. Das eröffnet ganz andere Spielregeln, zum Überflug bereit. Gerahmt wird der Text mit einer Poetik vorne + hinten, die barriereärmer macht, was an sich schon hierarchiefrei funktioniert.

Heiterer Trost

Ich lehne mich noch einmal weit aus dem Fenster: In diesem Buch ist alles drin, natürlich ohne, dass alles darin sein könnte. Immer wieder reflektiert das Gespräch sich selbst, steht vor dem Spiegel, fächert seine Themen auf, schaut sich die Lücken an, seine Strategie, hört den Zweifeln der Umstehenden zu und springt dann mit großer Pose ins Plansch-, äh, Poesiebecken.

Da sieht sich die Leser:in genötigt, ihre bequeme Kontemplationscouch zu verlassen und selbst mitzuschuften, Brücken zu bauen und die Sätze wie Fähren zu übersetzen. Der Trick: Am Ende sind wir nicht erschöpft, sondern kommen gestärkt aus dem Unterfangen. Ach, in dieses Buch immer reinzuschauen, wenn mal wieder die Ohnmacht klopft. Es ist ein verschmitzter Zettelkasten, das Kaffeehausgewirr des Internets, Diskussionen am Nachbartisch, Fetzen, die zum offenen Fenster hereinwehen und verspielt anschließen an die eigenen, eben verklungenen Gedanken.

See Also

Könnte es nicht möglich sein,2329 

Dass alle prinzipiell die Möglichkeit haben mitzumachen,2330 

Sie dachte an eine Schrift, die alle würden lesen können und
 der alle mit Bewegung und Rührung sich nähern sollten.2331 

die Möglichkeit haben mitzumachen, heißt aber gerade nicht, 
dass davon ausgegangen werden sollte, dass sie es irgendwann 
auch tun werden.2332 

Sie stellte sich ein einstweilen nicht genauer beschreibbares 
Buch vor, das aber umfassend und so vollkommen sein sollte, 
daß keine Sprache ausgeschlossen und ihm gegenüber kein
 Ohr taub bleiben würde.2333 

(Falls Sie nachschlagen, erfahren Sie: 2329 S.-Sturm 1996, 52.; 2330 Kastner 2007, 77.; 2331 Morazzoni/Scheible 1991, 9.; 2332 Kastner 2007, 77.; 2333 Morazzoni/Scheible 1991, 9.)

Und Augenschmaus

Ja, denn zudem ist es auch noch schön, das Buch, da war eindeutig eine Typografin selbst am Werk. Der Text schmiegt sich in die titelgebende Schriftart wie ein Kreis in sein Quadrat. Die Sonderzeichen machen Freude, das Papier ist warm. Es kommt daher wie eine zeitgenössische Bibel, Entschuldigung, ich meinte Fibel, zum Status quo der Schreiberei, dem Wozu und Wie – und wir folgen im Lesen Natalie Deewans Griff in die Welt und es fühlt sich dabei gar nicht widersprüchlich an, dass der Text tausendmal „ich“ sagt und die Autorin nie. Wir schwimmen ja alle zusammen in diesem Becken. Was nicht heißen soll, dass Positionen austauschbar wären, nein, the gaze counts – aber es braucht eben diese neuen Formen des Ausdrucks, um überhaupt noch „ich“ sagen zu können im Angesicht der Komplexität da draußen, hier drinnen. Oder „wir“? Wir schließen mit Gertrude Stein und Ella Fitzgerald:

or [...] or [...] or you write a book and while you write it you
 are ashamed for every one must think you are a silly or a 
crazy one and yet you write it and you are ashamed, you
 know you will be laughed at or pitied by every one and 
you have a queer feeling and you are not very certain 
and you go on writing.2248 

I wanna bite my initials on a sailor ...” 2249 

Natalie Deewan: Lucida Console – ein Translatorium Maximum. Deutsch, Englisch, Französisch. Klever Verlag, Wien, 2022. 330 Seiten. Euro 26,-

Ein Interview mit Natalie Deewan finden Sie hier.

Scroll To Top