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Nachtleben und Biotop

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Daniela Chana liest Uroš Prahs Erdfall


Wer des Öfteren in Wien Lesungen und Literaturfestivals besucht, mag in den vergangenen Jahren das eine oder andere Gedicht von Uroš Prah bereits auf der Bühne gehört haben. Mit Erdfall liegen nun erstmals Werke aus drei Bänden des jungen slowenischen Dichters in deutscher Sprache vor. Die Übersetzungen fertigte die Schriftstellerin Daniela Kocmut in intensiver Zusammenarbeit mit dem Autor an.

Die Gedichte in Erdfall strotzen vor Kraft und Sinnlichkeit. Prahs Schilderungen der Natur und des Menschen sowie des spezifischen Biotops, in dem der Protagonist sich bewegt – Bars, Clubs und eine Wohnung in der Großstadt –, weisen einen nahezu fotografischen Realismus auf. Immer wieder werden wir mit einer rohen, ungeschönten Körperlichkeit konfrontiert, der eine verlockende Ästhetik innewohnt.

Cover © Luftschacht Verlag

Durchwegs naturalistisch, ohne sentimentale Überhöhung beschreibt Prah zum Beispiel die erotische Anziehung und Sexualität zwischen Männern: Handlungen und Körperteile werden dabei nicht „poetisierend“ umschrieben oder angedeutet, sondern direkt genannt. Obwohl keine romantische Verklärung stattfindet, hat auch Liebe immer wieder ihren Platz in diesen Zeilen und kommt dann mit einer solch überraschenden Sanftheit, dass sie einen beim Lesen ins Mark trifft:

Als ich mich verabschiedete
beugtest du dich um den anderen
nicht zu zeigen dass du dich verliebst
unter den Tisch und bandest
meine Schnürsenkel auf.

Perspektive eines Dokumentarfilmers

Die Perspektive, aus der hier auf den modernen Menschen geblickt wird, erinnert an jene eines Dokumentarfilmers. Mit Neugier und nahezu wissenschaftlichem Interesse folgen wir dem Protagonisten bis in seine privatesten Räume, beobachten ihn bei der Interaktion mit anderen, aber nehmen auch teil an seinen Gedanken und Gefühlen. Das Nachtleben in der Stadt wird unter die Lupe genommen wie der natürliche Lebensraum einer bedrohten Tierart. Prah vollzieht diese Gleichsetzung, indem er etwa das Vokabular von Naturbeschreibungen mit Bildern aus dem urbanen Raum vermischt. Wohl nicht zufällig wird der Band mit einem Gedicht über das Văcăreşti-Delta eröffnet, Nationalpark und Vogelschutzgebiet mitten in Bukarest. Jenes Nebeneinander von Natur und Partyszene ist beispielhaft für die Ausrichtung von Erdfall und kommt somit fast einer poetischen Absichtserklärung gleich:

man sagt: Delta
offiziell Reservat
wofür?
Eingriffe etwa
für Vögel
und Typen vielleicht
die cruisen.

Freiheit der Form

Prah, der 1988 in Maribor geboren wurde und bereits als Student in Ljubljana die Literaturzeitschrift „IDIOT“ mitbegründete, präsentiert sich in Erdfall als überaus vielseitig. Während manche Gedichte die Länge von Balladen einnehmen, sind andere Texte so kurz, dass sie an Aphorismen erinnern. Vor allem in diesen Drei- oder Zweizeilern lässt uns der Dichter, der neben Komparatistik auch Philosophie studiert hat, an komprimierten Überlegungen teilhaben, die sich häufig aus Wortspielen nähren, etwa:

Ich bin nicht das was hier steht
sondern wohin es führt

Die Platzierung der Texte auf den Buchseiten wirkt auf den ersten Blick willkürlich: Manchmal beginnt ein Gedicht erst im unteren Drittel einer Seite, dann wieder bleiben ein oder zwei Seiten komplett leer, ein anderes Mal sind zwei Texte direkt untereinander gesetzt. Diese scheinbare Unordnung vermittelt den Eindruck, durch ein privates Notizbuch zu blättern, in das spontan nach Lust und Laune eingetragen wurde. Dies unterstreicht ein weiteres Mal das starke Gefühl von Nähe und Intimität, das sich beim Lesen einstellt. Auch deshalb verleitet Erdfall dazu, immer wieder zur Hand genommen, quer und wild durcheinander gelesen zu werden statt nur chronologisch.

See Also

Nicht bloß mit der Anordnung der Texte erlaubt sich der Dichter ein freies Spiel, auch bei der Form wirft er alle Regeln über Bord. Warum soll nicht der Titel einmal unter dem Gedicht stehen statt darüber? Lässt sich dann vielleicht das gesamte Gedicht auch von unten nach oben lesen? Erschließt sich daraus ein anderer Sinn als von oben nach unten, oder können beide Leseweisen einander ergänzen? Diese Freude an der Innovation zeigt sich auch in Prahs Vorliebe für Neologismen wie etwa „Gedickicht“, die beim Übersetzen behutsam ins Deutsche übertragen wurden.

Lohnenswerte Einblicke in die Qualitäten des Ausgangsmaterials sowie die Rezeption von Prahs Werken in Slowenien liefert das feinfühlige Nachwort der Co-Übersetzerin Daniela Kocmut, welches den Band abrundet. Uroš Prah ist ein vielseitiger und innovativer Dichter, der dank des Erscheinens von „Erdfall“ nun endlich auch einer größeren deutschsprachigen Leserschaft zugänglich wird.


Uroš Prah: Erdfall. Aus dem Slowenischen von Daniela Kocmut und Uroš Prah. Luftschacht, Wien, 2023. 104 Seiten. Euro 18,–

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