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Wenn die Menschlichkeit aufbegehrt

Wenn die Menschlichkeit aufbegehrt

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Daniela Chana liest Nina Medveds Gleitende Welt


Unter dem Titel Gleitende Welt ist nun das Lyrikdebüt der jungen slowenischen Autorin Nina Medved erstmals in deutscher Sprache erschienen, übersetzt vom Linguisten Boštjan Dvořák. Leichtfüßig und einfühlsam erzählen die Texte vom Alltag einer Frau in der Stadt, gehen in ihren Betrachtungen jedoch immer wieder über die rein subjektive Ebene hinaus.

Medveds Gedichte spielen sich überwiegend in der häuslichen Sphäre ab. Gerne wird die gemütliche Wohnung als Schutzbereich vor einer weniger behaglichen Außenwelt beschrieben, der das lyrische Ich eher mit Skepsis begegnet. Ein wiederkehrendes Motiv ist zum Beispiel die Bettdecke, die bis unter das Kinn gezogen wird und als Versteck dient, sowohl dem kindlichen als auch später noch dem erwachsenen Ich.

Cover © Drava Verlag

Immer wieder verschafft sich bei Medved eine feinfühlige Stimme Gehör, die gegen die oft rauen Aspekte der Arbeitswelt und eine rein ökonomische Betrachtung der Verhältnisse und Beziehungen aufbegehrt:

wie man mir einige Worte beibrachte.
klug. nett. brav.
wie der Befehl dem Lob
vorausgeht. (…)

Vom Zuhause, dem Mittelpunkt dieser Gedichte, ist es nur ein kurzer Gedankensprung zur Domestizierung. „wie wir nach dem Wolf und der Wildkatze / auch die Körper zähmten“, stellt das lyrische Ich fest und benennt anschließend klar, was ihm beigebracht wurde: „den Hunger auf die Minute genau zu verspüren. / die Müdigkeit, wenn wir sie uns denn leisten können.“ Die Sprecherin kämpft um ihre Menschlichkeit, wehrt sich dagegen, sich den Erwartungen der Außenwelt zur Gänze zu unterwerfen. Paradoxerweise, so scheint Medved anzudeuten, liegt vielleicht gerade darin die einzige Möglichkeit, sich zu behaupten – im Abstreifen der sogenannten „Zivilisation“:

Medved verwendet in ihren Gedichten überwiegend leicht zugängliches Alltagsvokabular, dennoch finden sich immer wieder auch tiefergehende Reflexionen über Sprache darin, etwa: „wie ich es gelernt habe, / dass die Worte verschiedene Härtegrade aufweisen.“ Die Protagonistin entpuppt sich nicht nur als Bewohnerin ihrer täglichen Umgebung, sondern auch der Texte, die sie schreibt: „wie ich dabei bin, große Geschichten zu verlassen. / (…) / ich den Weitergang der Fabel nicht mehr vorhersage. / dann und wann in eine Nebenrolle zurückweiche“. Wo Schreiben und Leben derart eng miteinander verwoben sind, ist es nur konsequent, dass der Alltag motivisch in die Texte einfließt.

Das Gleiten als Stilmittel

Indem die Gedichte allesamt mit demselben Wort beginnen – nämlich: „wie“ –, wird das titelgebende „Gleiten“ auch stilistisch umgesetzt. Von einem „Wie“ zum nächsten fließen die einzelnen Texte ineinander über, eine scharfe Trennung ist hier kaum möglich. Zum Ende des Bandes wird diese Verbindung ein weiteres Mal betont, indem die jeweils letzten Verse jedes Gedichts zusammengefügt werden und einen neuen Text ergeben. Dieses „Gleiten“ vermittelt nicht zuletzt ein Gefühl der Entschleunigung – auch dies mag in einer schnelllebigen Zeit als leiser Protest gelesen werden. Das lyrische Ich sehnt sich nach „Leichtigkeit“ und einem Ausbruch in nahezu unberührte Natur, fühlt sich „von den menschlichen Geräuschen / und den ausgehungerten Erwartungen gesättigt“. Eine Fliege, die sich ins Zimmer des lyrischen Ichs verirrt hat und ihr während des Gedichteschreibens auf die Nerven geht, wird zum Symbol für die Suche nach einem Weg in die Freiheit: Mit slapstickartigem Charme wird dargestellt, wie die Ich-Figur am offenen Fenster steht und sich vergeblich bemüht, der Fliege nach draußen zu helfen.

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Nur an vereinzelten Stellen führt die radikale Innenperspektive zu etwas gewagten sprachlichen Bildern, etwa wenn sich die Figur beim Einkaufen angesichts der Auswahl im Supermarkt überfordert fühlt und die „gesättigte[n] Regale“ mit „ausgebildete[n] Soldaten“ vergleicht, die sich vor ihr „ausbreiten“. Die Diskrepanz zwischen einer Kriegssituation und einem vollen Supermarktregal ist letzten Endes zu groß, um ein solches Bild überzeugend zu machen. Abgesehen von solch kleinen Schnitzern zeichnet sich Medveds Sprache jedoch durchgehend durch eine hohe Prägnanz aus.

Nina Medved, die 1989 in Slowenien geboren wurde und Vergleichende Literaturwissenschaft studierte, ist neben dem Schreiben auch als Fotografin und Übersetzerin aus dem Französischen tätig und erhielt für ihre Gedichte in ihrer Heimat zahlreiche Preise. Umso erfreulicher ist es, dass ihr Lyrikdebüt Gleitende Welt nun endlich auch dem deutschsprachigen Lesepublikum zugänglich ist, noch dazu – dank zauberhafter Illustrationen, bei denen sich leider kein Hinweis findet, von wem sie stammen – in überaus ansprechender optischer Gestaltung.


Nina Medved: Gleitende Welt. Aus dem Slowenischen von Boštjan Dvořák. Drava Verlag, Klagenfurt, 2023. 78 Seiten. 18, 90 Euro.

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