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Flache Erde zwischen den Sprachen

Flache Erde zwischen den Sprachen

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Stefan Schmitzer liest Jiang Xuefengs LI BAI IST AFRIKANER


Demokratisierung im Dunkeln

Die meisten europäischen Leser*innen werden weder von der chinesischen Sprache noch von der dazugehörigen Kulturgeschichte auch nur die geringste Ahnung haben – und zwar nicht einmal so viel Ahnung, dass sie beim Lesen übersetzter Literatur die kulturellen Referenzen, die realistisch gemeinte Schilderung und die individuellen Autor:innen-Idiosynkrasien voneinander unterscheiden können. Dieses völlige Tappen im Dunklen verändert, wie wir lesen: es unterlegt auch diejenigen Elemente des Texts, die tatsächlich „nur“ das schlechterdings Zuhandene abbilden, mit dem Goldgrund des potenziell kulturell Bedeutsamen, Topischen, Hintergründigen – und macht umgekehrt die Möglichkeit auf, dass wir, was zwecks Aufrufung einer Denktradition im Text steht, ganz einfach sinnlich-alltäglich rezipieren.

Der Effekt demokratisiert gewissermaßen die Elemente des Texts, da er sie dem ersten Eindruck ganz gleichrangig macht – viel mehr, als dies der Fall mit z.B. Gedichten aus einer europäischen Sprache der Fall wäre, die wir „nur“ nicht sprechen, aber über deren Alltagswirklichkeit wir irgendein osmotisch aufgenommenes Wissen haben.

Cover © fabrik.transit

Am Beispiel des Afrikaners

Beispielsweise eines der elf Gedichte des zeitgenössischen chinesischen Poeten Jiang Xuefeng, die 2022 zweisprachig (übersetzt von Martin Winter) bei fabrik.transit erschienen sind (es ist dasjenige, aus welchem der Buchtitel „LI BAI IST AFRIKANER“ entnommen ist):

MEINE AKTUELLEN FORSCHUNGSERGEBNISSE

Die Erde ist flach.
Li Bai ist Afrikaner.
Du Fu heißt eigentlich Li.
Yi Sha ist Iraner.
Jackie Chan ist von Dschingis Khan
ein echter Enkel der 72. Generation.
Auf der Welt waren zuerst keine Straßen,
dort wo viele gehen,
dort wird eine Maut kassiert.
Bettler haben den höchsten Anteil
an glücklichen Leuten.
China hat nur Diener des Volkes,
keine korrupten Beamten.
Eine Horde geiler Männer
jagt eine Hilfspolizistin.
Hauptsächlich um bei ihr auf dem Bett
den Stab zu verstärken.
Experten werden Experten
weil sie am selben Ofen
geformt und gebrannt sind.
Kopfschmerz, Gliederschmerz,
halt nur den Mund zu,
dann tuts nicht mehr weh.

2021-03-19

Aus dem Kontext ist klar, dass es hier nicht um die Hautfarbe eines Herrn Li Bai geht oder darum, dass ein anderer Herr Li (z. B. aus dem gleichen Wohnblock) ein Doppelleben führte: Der erste Vers gibt uns eine andere Leseweise klar vor. Es folgt nun, sagt er, eine Reihe von Aussagen, die auf eine bestimmte, gleichbleibende Weise falsch sind bzw. angesichts derer der Unterschied von subjektiv-magischer und objektiviert-abgeklärter Weltsicht greifbar wird.

Gerade so, wie die Erde flach ist (nämlich: nicht), so ist Li Bai Afrikaner. Wir, in Unkenntnis sowohl Li Bais als auch der genauen Konnotationen des chinesischen Wortes, das mit „Afrikaner“ übersetzt ist, stehen vor einem breiten Angebot an Lesarten. Steht da, kulturell vermittelt, so was wie „Brinkmann kommt übrigens aus [dem Kaff] Vechta“ oder etwa „Mein Nachbar ist ein Angeber“? Die Aussagen in den Folgezeilen (über Du Fu und Yi Sha) machen es nicht besser; Jackie Chan und Dschingis Khan kennen wir, wir wissen also immerhin, dass zumindest hier mit kulturellen Signifikanten jongliert wird – aber was sie bedeuten? Ist Dschingis Khan jetzt gut oder schlecht, grob gesagt lustig oder ernst?

Die meisten Leser*innen werden googeln müssen, um in Li Bai – dem „Afrikaner“ – und Du Fu zwei Vertreter der ganz klassischen chinesischen Poesie zu erkennen, deren Positionen im Parnass ungefähr – sehr vereinfacht gesprochen – analog denen Hölderlins und Goethes zu denken sind; und in Yi Sha einen bedeutenden Gegenwartslyriker. Aber ob z. B. „Afrikaner“ jetzt auf die geläufige inhaltliche Dimension eines Werks dieses Li Bai reagiert (also zu denken ist wie etwa „Hölderlin, der alte Grieche“) oder als etwas viel Zeitgenössischeres („Hyperion in Neukölln“) – das bleibt in der Schwebe.

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Uns selbst beim Lesen zusehen

Erst die Verse sieben bis neun werden (speziell nur: uns) greifbarer. Sie setzen die schön bildhafte Vermutung, Straßen entstünden eben (zum Zwecke der Mauteinhebung) dort, wo viele Leute gehen, analog zu der von der „flachen Erde“ (also: setzen sie als etwas, das instinktiv einleuchten mag, aber bei genauerem Hinsehen ganz falsch ist). Es wird uns also der Umkehrschluss didaktisch aufbereitet: Straßen entstünden nicht einfach, wo Leute gehen, sondern es ist umgekehrt eine Funktion der Verkehrsplanung, wenn die Leute glauben, dass sie schon immer hier oder dort gegangen seien – Ideologie ist also in diesem Gedicht eine viel mächtigere Instanz, als es den Anschein hat. Institutionelle Macht ist der „Straße“ vorgängig. Wir erkennen, wenn wir das Gedicht mit diesem Schlüssel in der Hand lesen, so deutliche wie deutlich verklausulierte Kritik an den Corona-Maßnahmen der chinesischen Regierung; bzw. wir erkennen, dass es diese Kritik hier auch zu lesen gibt. (Das finden wir in einem anderen der elf Gedichte noch viel direkter.)

Zugleich geben uns diese elf Gedichte die Gelegenheit, uns selbst dabei zuzusehen, wie wir das „Unmittelbare“, das „Kulturelle“ und das gewissermaßen Didaktische jeder Schilderung Xuefengs auseinanderdividieren. Wie viel wir dabei über chinesische Literatur lernen, ist weniger klar (oder auch nur wichtig) als, wie viel wir dabei über unser eigenes Leseverhalten lernen: Ihm sehen wir hier notgedrungen schärfer zu als sonst.


Jiang Xuefeng: LI BAI IST AFRIKANER. 11 Gedichte. Chinesisch/Deutsch. Übersetzt von Martin Winter. fabrik.transit, Wien, 2022. 40 Seiten, Euro 6,–

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