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„Man muß die Sprache quälen – bis sie schreit“

„Man muß die Sprache quälen – bis sie schreit“

Kirstin Breitenfellner liest Hans Haiders Ernst Jandl 1925–2000 als Winterlektüre


Als wir Ende der 1970er Jahre, Anfang der 1980er Jahre als erste Generation von Schülern das bis heute wohl bekannteste Gedicht von Ernst Jandl, „ottos mops“, im Deutschbuch fanden, mussten alle lachen: diejenigen, die man mit Lyrik eigentlich jagen konnte, und diejenigen, die der Wortpoesie bereits zuvor zugänglich gewesen waren.

ottos mops

ottos mops trotzt
otto: fort mops fort
ottos mops hopst fort
otto: soso

otto holt koks
otto holt obst
otto horcht
otto: mops mops
otto hofft

ottos mops klopft
otto: komm mops komm
ottos mops kommt
ottos mops kotzt
otto: ogottogott

Alle lernten: Lyrik muss nicht bierernst sein. Sie kann Spaß machen. Allein für diese Lektion, die seither keinem Heranwachsenden mehr verwehrt wird, müsste man Ernst Jandl dankbar sein, dem wohl meistzitierten Dichter des 20. Jahrhunderts. Seit Norman Junge das erste Gedicht von Ernst Jandl, Zeile für Zeile, illustrierte, wurden die Rezipienten noch einmal jünger. Von Büchern wie „fünfter sein“, das bereits 1977 erschien, verkaufte der Verlag bis 2022 150.000 Stück, erfährt man in Hans Haiders Biografie. Sprachbewusstsein für Vierjährige, was will man mehr?

Ernst Jandl Superstar. Ein Dichter für Jung und Alt. Ein österreichischer Dichter für die ganze Welt, zu dessen Ableben vor beinahe einem Vierteljahrhundert sogar ein Nachruf in der New York Times erschien. Dass ihm erst jetzt eine Biografie gewidmet wird, verwundert.

Foto © Kirstin Breitenfellner

Biografie ohne Psychologie?

Ernst Jandl gilt als einer der wichtigsten Vertreter der Konkreten Poesie im deutschen Sprachraum. Zur Erinnerung: „Konkrete Poesie bezeichnet in der Dichtung eine bestimmte Herangehensweise an die Sprache. Die Sprache dient nicht mehr der Beschreibung eines Sachverhalts, eines Gedankens oder einer Stimmung, sondern sie wird selbst zum Zweck und Gegenstand des Gedichts. Die Sprache stellt sich also selbst dar“, definiert Wikipedia.

Wenn nun Hans Haider ein Buch mit dem Titel „Ernst Jandl. 1925–2000. Eine konkrete Biographie“ vorlegt, bedeutet das, dass diese Biografie selbst Dichtung ist? Dass die Sprache zum Zweck und Gegenstand der Biografie wird? Mitnichten. Haider stellt die Sprache nicht aus, sondern versteckt sie hinter sogenannten Tatsachen. Er versucht eine Biografie ohne Spekulationen, das heißt ohne Psychologie und ohne Interpretationen. Ein Dichterleben anhand dessen, was der Dichter getan hat. Eine Lebensdarstellung anhand der Kontaktaufnahmen, Auftritte und Publikationen, aber auch anhand von Briefen und Anekdoten. Wer Einblick in den Literaturbetrieb der Nachkriegszeit bekommen will, ist hier bestens bedient. Wer etwas über Ernst Jandl, den Dichter und Menschen erfahren möchte, muss sich die Rosinen herauspicken und zwischen den Zeilen lesen. Da es derer auf über 500 Seiten viele gibt, kommt dabei nicht wenig heraus. Haider verweist auf Pierre Bourdieus Verdikt der biografischen Illusion („L’illusion biographique“, 1986) und dünkt sich in Folge fein raus.

Ernst Jandl war seit 1954 eigentlich zwei: gemeinsam mit der um ein Jahr älteren Friederike Mayröcker bildete er „ein bekanntes Paar“. Auf eine „Doppelbiografie“ werde man aber noch warten müssen, denn die Sichtung des Nachlasses der 2021 verstorbenen Mayröcker habe gerade erst begonnen, schreibt Haider. Die Natur dieser Beziehung deutet Haider nur an, wie vieles Private. Unter einem Dach lebte das Paar nur für einige Monate. Friederike wollte ein Kind, das Ernst ihr verweigerte. Später bereute er, keine Familie zu haben. Offenbar zählte er die uneheliche Tochter nicht als solche. Friederike, genannt Fritzi, wurde aber offenbar zugestanden, Verhältnisse zu haben, wie weit diese gingen, erklärt Haider nicht. Auch nicht seine eigene Beziehung zu Ernst Jandl – der zwanzig Jahre jüngere Haider war ein enger Freund des Paars, der in Jandls Stück „Aus der Fremde“ von 1979 in der Rolle des „er2“ auftritt. Tut nichts zur Sache?

Zumindest kann Haider als Insider des Jandl-Universums gelten, dem man die trockenen Daten, die er überbringt, vorbehaltlos glaubt. Uninteressantes bekommt bei Haider genauso viel Raum wie Spannendes, Neues, Lebensveränderndes. Aber gerade dadurch bekommt man ein Gefühl dafür, welch großer Teil eines „dichterischen“ Lebens der schnöden Kontaktanbahnung, langweiligen Vertragsabschlüssen und der unliebsamen Selbstvermarktung geopfert werden muss. Wer sich seinen „eigenen“ Jandl erarbeiten will (und tut man das nicht sowieso?), ist mit Haiders Ansatz nicht schlecht bedient, hält er sich doch tatsächlich beinahe gänzlich fern von einer übergreifenden Narration – und nach einer siebenseitigen Einleitung streng an die Chronologie. Man darf sich allerdings nicht der Illusion hingeben, dass eine solche Lebensdarstellung nicht über weite Strecken langweilig wäre. Aber die Langeweile lohnt sich!

Heruntergekommene Sprache und Lautschreikunst

Jandls Kindheit in einem „Lower-middleclass-Haushalt in den Chaosjahren nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie“ endete schrittweise mit dem Tod der Mutter 1940, der unfreiwilligen Vaterschaft mit einer Hausangestellten 1942 und dem Einzug in die Wehrmacht 1944. Als „zu Boden getretener Gymnasiast“ sollte er sich später beschreiben. „Als er 1946 als Kriegsheimkehrer mit 21 Jahren aus dem Zug stieg, war er schon im fünften Rechtssystem angekommen – wohl in einem demokratischen, doch für immer politisiert“, fasst Haider zusammen. Das Zusammentreffen mit Friederike Mayröcker nannte Jandl später ein „Wunder am Ende unserer weitgehend zerstörten Jugend“. Wer glaubt, dass Ruhm und Anerkennung solche Prägungen wettmachen können, wird in diesem Buch eines Besseren belehrt – und vergewissert sich ein weiteres Mal der traurigen Tatsache allen Startums, dass Erfolg keine Wunden heilt und auch nicht vor Depressionen und Alkoholmissbrauch schützt. Weihnachten 1977 brachte Ernst Jandl dieses Gedicht in der von ihm „heruntergekommen“ genannten Sprache zu Papier:

heunt sein ich drauffenkommen (heulnd)
daß in mein altern von firzen jahren
firzen jahren!! ich han verloren han
mein mutteren (muttern) – und heunt
(heulnd) sein ich mehren denn zweienfümzig
mehren denn!! so sei ich (üch)
drauffenkommen: heunt! heulnd! heuleuleul!
sie han sich der dod gehohlen,
und ich sein seiter nicht erhohlen. (haaben).
gönnen! gönnen!

Das Faible für Dichtung hatte Ernst Jandl von seiner Mutter Luise übernommen, die starb, als Ernst vierzehn war. Schon als Kind begann er, Lyrik zu verfassen. Die erste Ehe mit der Lehrerin Roswitha Birthi, gemeinsame Englandaufenthalte, sein Lehrerberuf in verschiedenen Schulen und Bezirken Wiens, die Freunde, die Liebe zum Jazz, neue Kontakte werden angehandelt. Lange kam Jandls Karriere nicht in Schwung. 1955 stieß er zum ersten Mal auf ein Gedicht von Eugen Gomringer. „Für ihn ein Signal, dass alles in der Lyrik in Frage stehe, zuvorderst die Innerlichkeit.“ Trotzdem oder gerade deswegen schrieb kaum jemand schonungsloser über sich selbst als Ernst Jandl: über seine Ängste, seinen Körper, seine Verzweiflung. Und er blieb auch nicht bei der Konkreten Poesie, sondern entwickelte seinen Stil stets weiter. 1965 begeisterte er erstmals ein großes Publikum mit einer „alle mitreißenden Lautschreikunst“ bei der International Poetry Incarnation in der Royal Albert Hall in London. Später sollte der Jazz-Freund sich betrübt darüber zeigen, „nur noch“ als Vortragskünstler gefragt zu sein (der allerdings mit zahlreichen renommierten Musikern kooperierte).

Erfolg verwöhnt, auch wenn der Durchbruch „erst“ mit über vierzig gelingt, im Falle von Jandl mit dem Band „laut und luise“ von 1966. Die Jahre von 1980 bis 1990 bezeichnet Haider als „Ernst Jandls Jahrzehnt“. Da war er freilich körperlich schon nicht mehr fit. Bereits mit 65 ging er am Stock. Sein Lebensziel, das er in den 1990ern der jungen Autorin Helga Glantschnig gestand, „unter den heute Schreibenden einen möglichst hohen Rang zu erreichen“, hat er jedenfalls übererfüllt.

Melancholischer Spaß

Jandl war und blieb ein politischer Mensch – mit Gedichten wie dem kriegskritischen „schtzngrmm“ und „wien: heldenplatz“ (die zu den wenigen Gedichten gehört, die bei Haider zur Gänze zitiert werden) oder „him hanfang war das wort“, einer Verballhornung des Johannesevangeliums. Dennoch bezeichnete sich Jandl am Schluss seines Lebens als Christ. Als er 1979 in Frühpension gehen konnte (davor hatte er zahlreiche Karenzjahre durchsetzen können), blieb er weiter kulturpolitisch aktiv, als Kopf der Grazer Autorenversammlung, aber auch als Wahlkämpfer für „seine“ Partei, die SPÖ. Seine letzten Jahre verbrachte der mit Preisen und Ehrenzeichen Überhäufte in einer Wohnung, die ihm der Staat Österreich zur Verfügung gestellt hatte.

See Also

Jandl hatte sich dennoch immer als „deutscher“ Dichter verstanden. Grenzen innerhalb des Sprachraums lehnte er ab. Er war international vernetzt, besonders im angloamerikanischen Sprachraum. Das hielt ihn freilich nicht davon ab, in den 1990er Jahren, angeregt durch das Duo Attwenger, „Gstanzln“, also Stanzen im Wiener Dialekt zu verfassen. Berührungsängste kannte er offenbar nicht. Das hielt seine Poesie lebendig.

Über die Rolle als „freier Schriftsteller“ hatte er in einem Vortrag von 1973 festgestellt:

„Es ist ein Spiel, es ist kein Beruf, es ist ein Spiel, das einen allmählich auf den Beruf, der dieses Spiel erst möglich macht, anders, und wahrscheinlich richtiger, sehen läßt, nämlich ebenfalls als eine Art Spiel, wenn auch mit anderen Regeln. In größerer Freiheit als auf diese Weise Schriftsteller zu sein, kann mich mir schwerlich vorstellen. Allerdings fehlt mir jedes Gefühl für das sogenannte Geniale, und damit auch jeder Sinn für poetische Lebensführung.“

Ernst Jandl verweigerte Tiefe und bekannte sich zum Banalen. „Man darf beim Schreiben keine Ehrfurcht haben. Man muss alles einmal gemacht haben, selbst Brutalität und Sarkasmus. Man muß die Sprache quälen – bis sie schreit“, sagte er 1994 zu Blixa Bargeld von der Band Einstürzende Neubauten.

Der genialischem Getue abholde pragmatisierte Lehrer und Sohn eines Bankbeamten war ängstlich, pedantisch, dominant, cholerisch, hypochondrisch und pessimistisch. Aber er hat bewiesen, dass Melancholie eine höhere Art von Spaß generieren kann. Dieser Spaß bleibt Jandls Vermächtnis, zur Gaudi und zum Trost der Nachgeborenen, mit traurig-schönen Gedichten wie folgendem, das ebenfalls bei Haider zitiert wird und das dazu angetan ist, einen bis zum Lebensende zu begleiten. Vom zu Boden gewandten kotzenden Mops bis zur in die Ewigkeit entschwindenden Amsel – in Ernst Jandls Dichtung ist die ganze Welt vorhanden.

der wahre vogel

fang eine liebe amsel ein
nimm eine schere zart und fein
schneid ab der amsel beide bein
amsel darf immer fliegend sein
steigt höher auf und höher
bis ich sie nicht mehr sehe
und fast vor lust vergehe
das müßt ein wahrer vogel sein
dem niemals fiel das landen ein

Hans Haider: Ernst Jandl 1925–2000. Eine konkrete Biographie. J.B. Metzler, Berlin, 2023. 591 Seiten. Euro 30,80

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