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Zum Schärfen des Blicks

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Alexander Peer liest Gerard Kanduth lichtbilanz


Buchcover „lichtbilanz“ von Gerard Kanduth

Der Kärntner Autor Gerard Kanduth hat mit lichtbilanz in Summe sechs Lyrik- bzw. Kurzprosabände veröffentlicht. Die im Buchtitel adressierte Schlussrechnung wird im gleichnamigen Gedicht mit dem Motiv von Tag und Nacht als Metapher für Leben und Tod verknüpft. Was also hat – vor jener letzten Schwelle innehaltend – all die Erfahrung gebracht? Lässt sie sich einem Urteil unterwerfen? Eine Antwort darauf kann wohl nur banal ausfallen. Der Autor stellt deshalb die rhetorische Frage direkt an Leserin und Leser:

Cover © Mohorjeva Hermagoras

ist dein blick
klarer
oder trüber
geworden

Ein Erinnerungsbuch ist es aus mehreren Gründen. Ein Text heißt „mnemosyne“. Hier wird nach jenen gesucht, die schon gegangen sind. Es sind die „tropfen / im fluss / des erinnerns.“ Das Bild des Tropfens für den einzelnen Menschen, der im Ozean des Universalen aufgeht, ist zwar ein lyrischer Gemeinplatz, aber er benennt ein wesentliches Motiv dieser Erinnerungen. Das Gedicht „mnemosyne“ gleicht einem verstärkten Ausruf für das Andenken am Beginn des Bandes. Namentlich sind Fabjan Hafner, Reinhard Kacianka und Arnulf Ploder genannt und damit dem Vergessen entrissen.
Sie alle sind vergleichsweise jung gestorben. Im Falle des Germanisten, Slawisten und Autors Hafner muss man wohl das Attribut unglücklich hinzunehmen. Ihnen gemeinsam ist, dass sie Weggefährten von Kanduth waren. Wie wichtig diese für ihn waren, verdeutlicht ein Blick in die Biografie des Schriftstellers. Bis 2022 war der in Lienz 1958 geborene Jurist am Landesgericht Klagenfurt tätig.

In einer der Poesie fernen Arbeitswelt kann einem das Schicksal leicht drohen, dem literarischen Schreiben vollkommen abhanden zu kommen. Umso wichtiger ist die Pflege der Mnemosyne, da sie in der Antike nach Hesiod die Mutter der neun Musen war. Gerade die Lyrik selbst schafft in Gestalt der Muse Euterpe eine unverzichtbare Pflege des Erinnerns; wörtlich heißt sie „die Erfreuende“. Die Bände von Kanduth zeichnet Prägnanz aus und die Freude am sprachlichen Spiel, das allerdings keine Kapriolen schlägt, sondern durch Reduktion bestimmt ist. Viele Texte sind Aphorismen oder Sentenzen, die mit Verve eine bestimmte Erwartung unterlaufen oder eine unverbrauchte Perspektive schöpfen. Wie bei manch anderen Büchern, die Miniaturen versammeln, wäre auch bei diesem Band diese Bezeichnung zutreffender: Kurzprosa und Poesie. Schon das erste Gedicht berichtet gekonnt von einem Minidrama:

optimierung 

vor lauter
landkarten lesen
ganz
auf die
abreise
vergessen

Der Witz darf auch vordergründig sein. Das zeigen mehrere Arbeiten dieser literarischen Bilanz. Wenn dem Älterwerden durch widerständigen Humor beizukommen versucht wird, der sich aufgrund der deutlicher werdenden Defizite nicht schämt oder autoaggressiv gebärdet, sondern Unvollkommenheit als Wesenszug des Individuellen bewertet und sanft ironisch Unabänderliches kommentiert. In der Erinnerungsarbeit, die mit dieser Spurensuche des Vergangenen verknüpft ist, entstehen zudem Bilanzierungen allgemeiner Gültigkeit:

einladung

zwischen volksschule
und klassentreffen
ein prall gefülltes
leben

erfahrungen
gesammelt
geteilt
und vergessen

der kopf
wird schneller müde
und zunehmend
weiß

Einfache Botschaften, klare Bilder

Die Schlichtheit des Gedichts verstärkt den Botschaftscharakter. Es sind deshalb meist keine poetischen Durchdringungen von Wirklichkeit, sondern ungeschönte Feststellungen. In manchen Fällen verbindet sich allerdings das Benennen rauer Realität mit einem feinsinnigen Mehrwert. Hier leistet der Text eine psychohygienische Wirkung und man kann sich manchem Rätsel gelassener zuwenden. Das wird in einem Gedicht deutlich, welches den abrupten Kontaktabbruch zu ergründen versucht.

ghosting

sie 
hatte ihm
immer
geantwortet

er 
wurde
zum fröhlichen
luftballon

neunundneunzig
messages
verhallen
im leeren
raum

wo ist
wer war
sie
fragt sein
verlassenes 
festplattenherz

Der Band weist auch etliche Fotografien auf. Kanduth stellt manchmal eine visuelle Erweiterung oder einen dramaturgischen Kontrast zu den Texten. Manche Aphorismen oder Mini-Texte würden für sich allein genommen das Urteil riskieren, trivial zu sein. So erklärt etwa „ökologisches statement“ eine schlichte Weisheit:

my home
is my
castle

Erst durch die Fotografie einer Schnecke und ihres Gehäuses auf der gegenüberliegenden Seite erhält diese Botschaft eine subtile Aussage. Denn die Unscheinbarkeit des zierlichen Schneckenhauses steht im klaren Widerspruch zum wuchtigen Erscheinungsbild der Burg. So erscheint auch das ökologische Statement deutlich zu sein: Die Form des Eigenheims entscheidet letztlich über die CO2-Bilanz.

Das Fazit dank der E-Gitarre

Da sind wir wieder beim Bilanzieren. Und dem Erinnern. Etwa an die Musik der 1970er-Jahre. Wenn die „sentimental journey“ zum Led-Zeppelin-Song „Whole Lotta Love“ führt und dabei die Gitarre von Jimmy Page ihre kraftvolle Pentatonik vibrieren lässt. Zumindest in meiner Vorstellung. Man sollte es nicht weitersagen: Es scheint einfach zu sein, mich als Rezensenten zu überzeugen – eine Anspielung auf Led Zeppelin oder Steppenwolf erhöht die Sympathie für einen Band deutlich.

See Also

get your motor running


mitte der
siebziger
feuerwehrfest
im klostengarten
mit polyhymnia

born to be wild
extended version
und ein 
mitreißendes
schlagzeugsolo

der hauptmann
in voller montur
fordert
mit hochrotem kopf
sofort eine
polka

Dabei scheint der schamhafte Feuerwehrmann vergessen zu haben, dass die Polka selbst ein Tanz einer Rebellion ist. Denn dieser Volkstanz wurde zu Anfang des 19. Jahrhunderts von der Jugend praktiziert, die dem Walzer ein anarchisches Pendant entgegenhielt. Aber wie jede Jugendrebellion irgendwann zu einer bürgerlichen Attitude zu verkümmern droht, so sucht jede Jugend ihr Motto der Andersartigkeit: „Looking for adventure, in whatever comes our way”, wie Steppenwolf 1969 in „Born to Be Wild“ sang. Wie mögen wohl adoleszente Mitmenschen über diese Rockklassiker urteilen, die mit Rap oder Hip-Hop ihre antibürgerliche Grundhaltung musikalisch manifestieren?

Doch der Band weist auch andere Tonlagen auf. Denn der Blick auf antidemokratische wie unmenschliche Umstände wird ebenso in diese lichtbilanz hineingeholt. Es findet beispielsweise in dieser Sammlung auch die Anklage an die Geschichte der Gewalt und der Auslöschung ihren Platz. Einfach und ergreifend formuliert:

endbahnhof

großvater
in der danziger bucht
ende märz
neunzehnfünfundvierzig
vermisst

großmutter
wartet und hofft
in kötschach
täglich
auf seine
rückkehr

listen mit
vermissten
heimkehrerzüge
fotos für die 
wahrsagerin

im juni
neunzehnsechsundfünfzig
wird er
rechtlich
für tot erklärt

Viel lässt sich mit wenigen Wörtern erzählen. Gerard Kanduth liefert dafür einen erhellenden Beweis.


Gerard Kanduth: lichtbilanz. Mohorjeva/Hermagoras, Celovec/Klagenfurt, 2025. 102 Seiten. Euro 24,90

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