Katharina J. Ferner liest Tove Ditlevsen: There Lives a Young Girl in Me Who Will Not Die als Sommerlektüre
“The best time of my day is when I am alone, and my thoughts can grasp a fleeting memory — childhood’s half-light falls through bare winters branches landing in the stripe of sun upon my writing desk”
Es ist Mai und wir sind gerade mit dem Zug durch Schneelandschaften gefahren. In Bergen ist es milder, als uns die Fahrt erwarten ließ, aber die Sonne ist auch hier spärlich. Über ein Graffiti finden wir den Weg zum Literaturhaus und der dazugehörigen Buchhandlung, die mein Reisegepäck erheblich erschweren wird. Der Buchhändler lacht, als ich zu Tove Ditlevsen greife, für ihn einer der Klassiker, für mich eine Entdeckung.

“There Lives a Young Girl in Me Who Will Not Die” begleitet mich in den Sommer hinein. Ich lese darin seit Monaten, kann über keines der Gedichte einfach hinweg gehen, in ihnen steckt so viel vom Leben.
Cover © Katharina Ferner
“My hear loves all the most impossible children, Those no one cares for and no one understands. The liars, the thieves, the promise-breakers, the children all adults love to reprimand.”
Tove Ditlevsen war eine Vielschreiberin. Sie wurde 1917 geboren, wuchs in einer Arbeiterfamilie auf und publizierte bereits in jungen Jahren Gedichte. Sowohl ihre Lyrik als auch ihre Prosa sind eng mit ihrer Biographie verknüpft und schwanken zwischen spielerischem Humor und tiefer Tragik. Die Rolle der Frau, insbesondere der Ehefrau und Mutter, wird hinterfragt, Erinnerungen an die Kindheit als unbeschwerte Zeit eingeflochten. Vielfach aber auch als große Unsicherheit und Einsamkeit beklagt. Die Erwartungshaltung an die eigene Rolle im traditionellem Familiensystem wird mit scharfen Sätzen bekämpft. Der generelle Konflikt, das Schreiben mit Alltag außerhalb zu vereinbaren, bleibt als Thema wohl zeitlos aktuell. Innerhalb der Abschnitte gibt es mehrere Serien, die für mich insgesamt hervorstechen, davon besonders „Divorce 1-4“ und „Self-Portrait 1-4“. Tove Ditlevsen ist darin eine schonungslose Beobachterin der eigenen Lebensrealität. Ihre Erfahrungen können jedoch vielfach stellvertretend gelesen werden, für Frauen, die sich beispielsweise aufgrund von alleiniger Care-Arbeit in einem Gefüge wiederfinden, das nicht ihren Vorstellungen und Wünschen entspricht, die aber letztlich auch für sich und ihre Träume einstehen.
Self-Portrait 1 I cannot: cook pull off a hat entertain company wear jewellery remember appointments send thank-you cards leave the right tip hold onto a man feign interest at parent-teacher meetings. I cannot stop: smoking drinking eating chocolate stealing umbrellas oversleeping forgetting to remember birthdays and clean my nails telling people what they want to her spilling secrets loving strange places and psychopaths. I can: be alone do the dishes read books make sentences listen and be happy without feeling guilty.
“There Lives a Young Girl in Me Who Will Not Die” ist eine chronologisch angelegte Sammlung. Chronologisch nicht nur im Erscheinen der jeweiligen Werke, sondern auch im Älterwerden des lyrischen Ichs und auch der Autorin. Auf “From a Girl’s Mind“ (1939), Ditlevsens Debüt, folgt später “From a Woman’s Mind” (1955). Als Leserin begleitet man diese natürliche Entwicklung bis hin zu einer posthum erschienenen Auswahl, “To a little Girl“ (1978). Ditlevsen verübte 1976 Suizid.
Es ist August und ich habe mich auf die Suche nach weiteren Büchern Tove Ditlevsens gemacht, bleibe aber immer noch in den präzisen Momentaufnahmen ihrer Gedichte hängen: Wenn in “Tiptoer“ die absperrbare Toilette als Rückzugsort dient, um dem Trubel kurzfristig zu entfliehen, oder in “There Lives a Young Girl” das zwanzigjährige Ich beim Blick in den Spiegel zurückblickt und nach ihren Träumen fragt. “There lives a young girl in me who cannot die / until I tire of believing I once was her.”, heißt es im titelgebenden Gedicht. (S.45)
In anderen Rezensionen wird Ditlevsen häufig in der Tradition von Annie Ernaux und Dorothy Parker genannt und, was die Lyrik angeht, kann ich mich bei Dorothy Parker auf jeden Fall anschließen. Es lohnt sich aber bei beiden nicht nur auf Zitatsuche zu gehen und Pointen herauszupicken, sondern die Texte als Ganzes zu begreifen. Sie bauen sich erzählerisch auf und münden dann oft in eine bitterböse Klarheit oder eine gewitzte Feststellung. Was mich an dem Band erfrischt hat ist, ist die Leichtigkeit des Tons, trotz der Ernsthaftigkeit der Themen. Die offene Kritik an den gesellschaftlichen Konventionen, ohne an der Selbstkritik zu sparen. Formell wurde in der Übersetzung manchmal zugunsten des Inhalts auf den Reim verzichtet, der sich laut Nachwort der Übersetzer im dänischen Original durchzieht, wenngleich er in späteren Werken einem weniger strengen Schema folgt. Die Rhythmik ist aber in jedem Fall vorhanden, der ebenfalls erwähnte ungezwungene, scheinbar mühelose Stil, ebenfalls. Die Wiederholung einzelner Themen, wie der Kindheit, ermöglicht Lesenden einen guten Einblick in die Entwicklung im Gesamtwerk.
Tove Ditlevsen übersetzt aus dem Dänischen von Sophia Hersi Smith und Jennifer Russell. Mit einem Vorwort von Olga Ravn. There Lives a Young Girl in Me Who Will Not Die. Penguin Classics, 2025

