von Kirstin Breitenfellner
Tag 3 / 8.November 2025
17:00 Uhr
Die Poesiegalerie startet heute eine Stunde früher als gewöhnlich, um siebzehn Uhr. Trotzdem ist das Publikum zahlreich erschienen. Das liegt vielleicht auch daran, dass Ilse Kilic den Beginn macht, Poetin, „Oma gegen rechts“ und Verlegerin (Das fröhliche Wohnzimmer). Ihre Partnerin RSMA stammt aus Karlsruhe. Deren Künstlername bedeutet die überkreuzte Umkehrung von ASMA – der Kunst, zu flüstern – erklärt Moderatorin Rhea Krčmářová. „Du, mein Minileben“, beginnt RSMA mit normaler Stimmlage. „Mein Mini, mein Leben“, geht es in Variationen weiter. Kilic begleitet sie auf einer indischen Harmonika namens Sruti.



„Was das Gedicht will, kriegt es nicht oft“, setzt Kilic fort, begleitet von RSMA, die eine Spieldose kurbelt. „Was das Gedicht will, sind Leserinnen und Leser.“ „Das Gedicht ist auch eitel.“ „Manchmal winkt das Gedicht der ganzen Welt mit dem Zaunpfahl.“ Man merkt: Hier geht es um Grundsätzliches der Poesie – aber mit einem Augenzwinkern. Aber es wird auch gesungen und kauderwelscht. Das Mikrofon ist golden, die Augen von RSMA schwarz umrandet wie von einer Kumari. „Jetzt kommen wir zu Esperanto-Deutsch“, kündigt Kilic an. „Ich suche nicht des Lebens Sinn, weil ich dieser selber bin“, sagt sie, und wiederholt das auch. Das Publikum wirkt beglückt.

Tim Tensfeld liest mit weicher Stimme aus seinem Lyrik-Debüt muschelscherbensterben, erschienen in der edition tagediebin von Andrea Knabl und jopa jotakin. Er stammt aus dem hohen Norden Deutschlands in der Nähe von Lübeck und beginnt mit dem titelgebenden Gedicht, das in Norwegen verfasst wurde, wie die meisten der 27 Texte des Bandes.
Dazu werden die Zeichnungen von Katharina Daria Prazuch an die Wand projiziert. Da sieht man etwa eine Zunge, die aussieht wie ein Fluss, umgeben von Klüften, die sich im Vordergund in die Leiterbahnen von Computerchips verwandeln. „In der Tasse treiben die Fliegen“ heißt ein Gedicht. Auf dem dazugehörigen Bild versucht eine Fliege aus der Kaffeetasse zu kriechen, in die sie offenbar gefallen ist, an einem Finger hinauf, der ihr anscheinend dargeboten wird. Sprache und Bild ergänzen sich, und bei den meisten der lakonischen, emotional aufgeladenen Gedichte erhält die Zuhörerschaft auch eine Information zu dem Ort, an dem ein Gedicht entstanden ist.
Als Nächstes kommt Patricia Mathes auf die Bühne und liest aus ihrem viel beachteten Lyrikdebüt im grunde sprichst du schon. Mit„welches wort geschah sich uns zu ende?“ beginnen ihre Erkundungen über den Sprachgebrauch. Mathes spricht bedachtsam und tastend, so als ob sie auch gerade eben erst versuchen würde ihre Texte zu verstehen.

Und tatsächlich enthalten diese so viele Schichten, dass man vermutlich nie damit zu einem Ende kommt, diese aufzublättern und auszudeuten. „warst du jemals etwas anderes als ein wort?“ Diese Lyrik kommt im Fragemodus daher. Sie kreist die Welt und den Sinn des Lebens nicht mit Aussagen ein, sondern versucht ihren Rätseln mit Erstaunen zu begegnen. Es wird stiller und stiller im Raum, beinahe scheint die Zeit stehen zu bleiben, in den immer länger zu werden scheinenden Pausen zwischen den Wörtern. Diese Gedichte streicheln den Sinn aus der Sprache heraus. Sie sind philosophisch, obwohl sie sinnlich klingen. Sie sind sanft, obwohl sie die Sprache unerbittlich auf ihren Sinn hin abklopfen.
Üppig gedeckte Büchertische warten auf ihre Leser*innen und Käufer*innen



18:00 Uhr
Nach einer Pause geht es um 18 Uhr weiter mit Dagmar Leupold, die froh ist, mit der Deutschen Bundesbahn von München aus pünktlich in Wien angekommen zu sein. Small Talk heißt Leupolds Gedichtband bei Jung und Jung, der aktuelle Themen verhandelt, vom Krieg in der Ukraine und Israel bis zum Alltäglichen der Kommunikation. Ihr letzter Gedichtband, Byrons Feldbett, erschien 2001 bei S. Fischer. Danach publizierte sie mehrere erfolgreiche Romane. Stimmt es also, dass Autorinnen und Autoren den Krisen der Zeit zunehmend besser mit Gedichten als mit Prosa beizukommen hoffen?

Im ersten Teil des Schwerpunkts liest Leupold aus ihrem neuen Band. „Volkskörper, Wolken“ heißt ein Gedicht. „Grau befehligt rücken sie aus Osten vor“, werden die Armeen beim Namen genannt. „Wunsch, in der Bäckerei zu arbeiten“ gibt sich dem Genussgedanken hin. Mit der Zeile „Dieser Tag bringt kein Leid, nur Wetter“, scheint das grausame Licht der Welt dann am Ende aber doch in den Text hinein. Leupold erzählt von einem Aufenthalt in der Ukraine, bei dem einige Gedichte entstanden.
Im anschließenden Gespräch fragt Udo Kawasser als Erstes, warum bzw. wie Leupold nach dieser langen Pause zur Lyrik zurückfand. Leupold vermutet als Ursache die lange Abwesenheit aus Deutschland, u.a. in Italien und New York, die sie nach der Rückkehr besser erzählerisch als lyrisch bewältigen konnte. Für die Rückkehr zur Lyrik macht sie die „geballte Faust“ der Lyrik geltend, die den aktuellen Krisen konzentrierter beizukommen vermöge. Die „Gleichzeitigkeit sich eigentlich ausschließender Zustände“ war schon Thema von Leupolds Dissertation über das Oxymoron aus dem Jahr 1993. In ihrem neuen Gedichtband versucht Leupold dieser mit dem Vergleich von Kriegsrhetorik und Smalltalk beizukommen, wobei sie auch dem Smalltalk-Thema par excellence, dem Wetter, Kriegsvokabular attestiert: etwa der Rede von „Wetterfronten“ (Luftdrucklinien zieren auch das Cover des Bands). Der Titel nimmt aber auch Bezug auf die Kürze der Gedichte. und anders als zu vermuten stellt der Band eine – ironisch gebrochene – Ehrenrettung des von manchen verpönten oberflächlichen Sprechens dar. Denn dieses repräsentiert für Leupold den Wunsch nach einer Verbindung durch unverbindliches Sprechen in Zeiten von auseinanderdividierenden Ideologien.
Moderator Udo Kawasser outet sich als langjähriger Freund des nächsten Dichters Helwig Brunner, der seinen Lyrikband abdruck in weicher masse (Limbus) mitgebracht hat. Brunner leitet in Graz ein ökologisches Planungsbüro im Bereich Energiewende. Sein Climate-Fiction-Roman „Flirren“ erschien 2024 bei Droschl.

Er firmiert aber auch als Literaturvermittler bei den Grazer Lichtungen und gibt bis heute die Reihe keiper lyrik heraus. Sein Gedichtband stelle einen Versuch dar, alles, was er geglaubt habe, dass Lyrik sei, hinter sich zu lassen, erklärt der Autor. Mit Bezug auf das zuvor bei Dagmar Leupold Gehörte wirft er seinen Leseplan um und beginnt mit einem Gedicht über den Krieg. Eigentlich geht es um das Schreiben und die Schrift, die Brunners Gedichte auch in der „Ursuppe“ und den aus ihr hervorgegangenen Elementen erkennen, aber auch im Urin des Hundes, der den Baum hinunterläuft. Ironisch-süffisant betrachtet Brunner Zugreisende, die sich allen anderen um Bonusmeilen voraus wähnen. Im Blocksatz gesetzt, sind Brunners Gedichte beeindruckende erzählende Erkundungen über die Widersprüche eines Lebens in Sicherheit – im sicheren Zug statt in einem Boot über das Mittelmeer sitzend, den Zimt des schneckenförmigen Gebäcks schmeckend statt im Salzwasser zu ertrinken.
19:00 Uhr

Nach der Pause geht es um 19 Uhr weiter mit Angelika Reitzer, der etablierten Romanautorin, Verfasserin von Drehbüchern, Germanistin und Literaturvermittlerin. Blauzeug, erschienen bei Limbus, ist ihr erster Gedichtband. Er entführt das Publikum auf eine Reise, von Rom nach Triest und Wien, wie Reitzer vorausschickt, und– falls es das Zeitbudget erlaube – eventuell zur Ostsee.
Die Gedichte seien sehr lang, warnt Reitzer noch, das Zuhören wird aber eher kurzweilig. Reitzer beherrscht die Kunst des Understatements. Titelgebende Gedichte haben grundsätzlich große Chancen, bei Lesungen gelesen zu werden. So auch hier. Reitzers Langegedichte sind Stadtminiaturen, tagebuchartige Einträge, die kleine Geschichten erzählen, impressionistisch und historisch-kritisch. Italienisch und Kroatisch klingen auf beim Besuch des einzigen Konzentrationslagers mit Krematorium auf italienischem Boden, der Reismühle von San Sabba in Triest. „Blau ist die größte Farbe“ heißt ein Gedicht. Türkis, Rosa, Blau und Schwarz sind hierbei die Farben, die dem Meer zugeordnet werden. Reitzers „Bilderbuchtexte“ zitieren Autoren wie Beckett oder Büchner.

„Notiere, wir sind total pünktlich“, sagt Udo Kawasser, als es um 19.15 Uhr mit Andreas Pargger weitergeht. Das ist bei der Poesiegalerie nicht selbstverständlich. Aber der Abend ist ja noch jung. Pargger lebt in Irland und schreibt auf Deutsch und Englisch. Wie wir leben sollen ist sein dritter Gedichtband, erschienen bei Sisyphus.
Er habe sich immer gefragt, woher die Kluft komme zwischen dem, wie er leben wolle, und dem, wie er lebe, erläutert Pargger den Titel des Buchs. Die Gedichte seien „Suchbewegungen von verschiedenen Daseinsformen“. Pargger, schlank und groß gewachsen, liest im Stehen. Listengedichte nennt er die „Bestandsaufnahme von allem, was mich umgibt“. Dichtung als Versuch, dem Chaos eine Form zu geben. Das titelgebende Gedicht variiert Satzfragmente über die Diskrepanz von Leben und Lebenwollen. Am Schluss der Lesung stehen Bäume, Bäume, Bäume. Und kleine Gedichte, die Satori-Momente einzufangen versuchen, wie ein Ahornbaum im Eis.


Der Titel des nächsten Gedichtbands evoziert Blumen. Philipp Hausers Band Blumen aus der Pampa erschien bei der Parasitenpresse. Er enthält auch Fotografien des Autors, die heute leider nicht gezeigt werden. „Den Lähmungszustand herausschreien“ lautet die erste Zeile, die zu leise herauskommt, weil das Mikro streikt. Für die Technik kann sich die Poesiegalerie immer noch keinen Profi leisten, deswegen muss Udo Kawasser immer wieder einspringen. Auch inhaltlich überwinden Hausers Gedichte bald die zu Beginn diagnostizierte Lähmung. „Wenn einem der Drang entsteht zu gehen, weil man weiß, dass man gehen muss.“ Mit dem Vergleich des lyrischen Ichs mit einem „Raubtier im Zen“ evozierten der Autor nicht als Erste an diesem Abend östliches Denken. „Nichts verhilft dem Ungeheuer mehr zum Atmen als Schweigen.“ Und auch die Wir- und Man-Form, in der viele Gedichte verfasst sind, passt nicht zu europäisch gefasster Einsamkeit – eingebettet in imaginären Kollektiven, möchte man konstatieren: eine Form der Geborgenheit. Ein „vibrierender Seelenstrang, in die eigene Hand genommen“, angerufen in einem der letzten Gedichte, verdichtet diesen Eindruck.
20:00 Uhr
Zwanzig Uhr. Moderator Sven Jakobson ruft das Publikum zur „vierten Folge der dritten Staffel“ der diesjährigen Poesiegalerie zurück. Ob sich noch jemand aus dem Publikum an die lange Leine mit weißer Wäsche aus der Waschmittelwerbung erinnere? Daniel Böswirth habe dies mit Gedichten getan, an einer langen Wäscheleine, von der Seestadt Aspern bis Wien. „LYRIK ON LINE“ heißt die daraus entstandene Anthologie in Anspielung oder vielmehr Abhebung vom Zwang, „online“ zu sein. Eines der vielen Gedichte wird nun rezitiert, von Martin Winter, der es aus dem Chinesischen übersetzt hat. In dieser fernen Sprache wird es zunächst auch gelesen. Man vernimmt einen Refrain, der klingt wir „pusche tjatschö“ und bildet sich ein, zumindest irgendetwas zu verstehen. „Jedem das eigene Gemeine“ heißt es auf Deutsch, womit nicht auf Böswilligkeit, sondern gemeinsame Werte Bezug genommen wird. Danach erklärt Böswirth mithilfe einer Fotodoku sein Konzept. Begonnen hat alles in der Corona-Zeit, während einer Quarantäne, die wegen eines fehlenden Bescheids nicht beendigt werden konnte. Böswirth wollte die Formel des Literaturbetriebs „Keiner liest keinen. Jede Lesung nur mit einem“ und die Dominanz des öffentlichen Raums mit Werbung unterlaufen. Und zwar analog. Er rief zur Einsendung von Gedichten auf, sie kamen aus Australien über Südkorea und Slowenien und Ungarn bis Österreich. Gezeigt wurden sie zunächst auf Schwarzen Brettern. Für die Zukunft strebt Böswirth einen permanenten öffentlichen Raum für Gedichte an, „und seien es nur zehn Quadratmeter“. Das Motto zu einer Ausstellung in der Seestadt lautete, auch als Hommage an Friederike Mayröcker: „Verzettelt euch.“ Ein weiteres Projekt heißt „Garagenräumung für „Kurzparkpoesie“. Energiewende- und klimawandeltauglich, findet Böswirth, der mit seiner „poetischen Intervention“ noch lange nicht am Ende ist.


Erwin Einzinger ist leider erkrankt, auf die Präsentation des Bands Aus dem Zuckerlautomat … (erschienen bei Jung und Jung) will Moderator Udo Kawasser aber nicht ganz verzichten und liest selbst drei Gedichte. Die Kunst, unmögliche Dinge zusammenzubringen, weise Einzinger als Surrealisten aus, meint Kawasser. Tatsächlich fängt das erste Gedicht mit André Breton an. „Was zum Teufel soll das alles“ heißt das nächste Gedicht. „Vielleicht haben Sie sich das in der Poesiegalerie auch schon gefragt“, scherzt Kawasser. Das Publikum lacht. Dem Autor wird in Abwesenheit gute Besserung gewünscht.

Es geht weiter mit Christopher Schmalls zweitem Gedichtband gegenstandslos (fabrik.transit). Er nehme sich kein Blatt mehr vor den Mund, zitiert Moderator Sven Jakobson Schmalls Homepage und fragt nach dem Grund. Damit sein Gehirn nicht explodiere angesichts der Gegenwartskrisen, meint Schmall.
Sein erstes Gedicht handelt von „gefickt eingeschädelten“ Traumata und Dogmen. Das zweite vom Krieg. „Komm, erzähl vom Krieg, von dem du nichts erzählen kannst.“ Und: „Bedeutet Schweigen Mittäterschaft?“, fragt sich das lyrische Ich. „Sage ich es nur, weil mir Jandls Gedicht ,vater, komm erzähl vom krieg‘ durch den Kopf schwirrt?“ Es geht um das Gesagte und das Sagbare, mehr in aphoristisch-philosophischer Form als in gedrechselter Wortakrobatik. Schmall steckt das Wortfeld ab, von „Kriegerdenkmal“ bis „Krieg dich mal ein“. Und zurück bis zum Verhalten der eigenen Familie während der NS-Zeit. Seine „Texte gegen Stumpfsinn und Gefühllosigkeit“, wie der Verlagstext sie nennt, zeugen vom Engagement einer jüngeren Generation, die der Politik immer öfter den Vorrang vor der Kunst einräumt.
Gerhard Kofler, geboren 1949 in Bozen, starb viel zu früh vor zwanzig Jahren. Freundlich und zugewandt vermittelte er zwischen Welten und Sprachen – als umtriebiger und charismatischer Dichter zwischen dem Italienischen und Deutschen, als Generalsekretär der GAV zwischen den Kulturschaffenden und dem „Rest der Welt“. Als Gäste der Gedenkveranstaltung sind Petra Ganglbauer, Ilse Kilic, Kurt Neumann gekommen sowie die in Barcelona ansässige Dichterin Corina Oproae, die zwei Kofler-Gedichte in rumänischer Übersetzung liest, und die kubanische Dichterin und Übersetzerin María-Elena Blanco, die gerade in einem spanisch-chilenischen Verlag eine gut 500-seitige Anthologie aus den 17 Gedichtbänden Koflers zusammengestellt und übersetzt hat. Ebenso anwesend: Koflers Witwe Hannelore Kofler-Brunoglo. Der Raum ist so gefüllt wie nie seit der Eröffnung am Donnerstag.






Der langjährige Leiter des Literarischen Quartiers Alte Schmiede Kurt Neumann hält die Eröffnungsrede, liest einzelne Gedichte auf Deutsch und Italienisch und erinnert daran, dass Erhabenheit und Ironie sich bei Kofler nicht ausschließen. Als Triebkraft von Koflers Dichtung macht Neumann die Sehnsucht geltend. Auch Petra Ganglbauer, Kollegin von Kofler in der GAV, betont Koflers Liebenswürdigkeit, aber ebenso sein Dichtersein aus ganzer Seele und ganzem Herzen. Seine herzhaften Umarmungen und seine beruhigende Ausstrahlung vor den durchaus heftigen Sitzungen de GAV haben sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis gegraben. Nach einer Lesung von Ganglbauer und Udo Kawasser tritt eine weitere GAV-Protagonistin auf: Ilse Kilic. Sie erinnert daran, dass Kofler am ersten Tag als Vorsitzender der GAV eine Kaffeemaschine anschaffte, eine kleine und typische, aber wahrscheinlich auch große Geste, wie Kilic meint. Und erzählt, wie er ihr an ihrem Geburtstag 2004 beibrachte, wie man Tequila trinkt. Ein Jahr später hatten beide Krebs. Ilse Kilic bekam ihre letzte Bestrahlung, als Kofler starb. Das Gedicht von Kofler, das sie zum Schluss liest, endet mit den Zeilen: „Erwarte dir nicht zu viel von der Weisheit. Auch das Obst, das vom Baum fiel, hatte seine Erfahrung gemacht.“ María-Elena Blanco entschuldigt sich, Englisch zu sprechen, sonst würden alle noch bis morgen hier sitzen müssen. Gerhard Kofler hatte ihr einst geholfen, dass ihre Gedichte ins Deutsche übersetzt wurden. Dafür bedankt sie sich mit Übersetzungen von Koflers Gedichten ins Spanische, bei denen sie beide Versionen von Koflers Gedichten heranzog (Kofler übersetzte seine eigenen Gedichte). Manchmal gab sie dabei sogar der deutschen Version den Vorrang vor der italienischen. Lesungen auf Deutsch, Spanisch und Rumänisch von Corina Orpoae runden diesen emotionalen Programmteil ab.
Mit einer halben Stunde Verspätung geht die diesjährige Poesiegalerie in die Zielgerade. Mit zwei Realisierungen des Gedichts von Antonio Fians Gedicht „ruhwunsch“ von Susanne Wiegner und Nikolaus Jantsch, eine Kooperation mit dem Vienna Poetry Film Festival. Bei Nikolaus Jantschs gezeichneter realistischer Bebilderung überraschen die englischen Worteinblendungen, Susanne Wiegner setzt dem Szenisches entgegen. Zum Schluss zoomt das Szenario aus. Es folgt ein Nachspann ohne Worte. Bei beiden Filmen hört man die Stimme des Autors. Ein Erlebnis.
22:30 Uhr
22.23 Uhr. Von der Zeitschrift Perspektive nominiert wurde Evelyn Schalk. Die vielseitige Autorin und Journalistin aus Graz liest aus ihrem Laptop Gedichte aus der aktuellen Perspektive mit dem Titel „Heli halo“, die dem vor zehn Jahre verstorbenen Herausgeber Heli Schranz (1963–2015) gewidmet ist.

Statt einem Heiligenschein ist auf dem Cover aber ein Löwe in Stein mit herausgestreckter Zunge abgebildet. Das passt zur ausgewiesenen auf „Sprachskepsis/Sprachkritik wurzelnden Kunstliteratur“ und der „vancierenden und betriebskritischen Position“, für die Schranz stand. Politisch, kritisch und sprachbewusst zeigen sich auch die von Schalk vorgetragenen Gedichte.
Stefan Schmitzer, Mitherausgeber der Perspektive, hat zu später Stunde einen Anschlag auf das Publikum vor. Er hat Zettel ausgeteilt: eine „Schranz-Montasch“ mit dessen ewigem Protagonisten Birnbaumer Fritz. Schranz’ Texte könne man ja weiterhin lesen, aber was fehle, sei sein mehrstimmiger Vortrag, meint Schmitzer. Eigentlich für die Gedenkveranstaltung am 30. September dieses Jahres geplant gewesen, gibt es jetzt also eine Zweitaufführung. Der Textstrang „Vorläufige Mordergrube“ wird von der linken Saalhälfte gesprochen, der rechten ist „vom verschwinden marktferner räume“ zugewiesen. Da hier viele Dichterinnen und Dichter sitzen, wird engagiert mitgesprochen. Das klingt dann so: „avantgarde misstraut formalin konservierten werkzeugkästen und essentialismen (die dürfen mitsterben mit ihrer zeit), avant …“ „Gut redet der Durst / Fritz schon völlig zu.“ Schmitzer dirigiert mit Verve. Nach fünf Seiten sind auch die Müden wieder wach. Der Satz „Wer nicht hören will, dem schreibt das Finanzamt“ wird fast schon gebrüllt.




Die letzte Aufmerksamkeit wird auf Hannah K Bründl gebündelt. Sie ist Autorin an der Schnittstelle von Lyrik, Drama und experimentellen Formen. 2020 entstand das im Kollektiv mit Anouk Doujak, Laura Anton und Maë Schwinghammer geschriebene Hörspiel es gibt diese namen / es gibt diese wut über Sexismen im Literaturbetrieb. In ihrem zweiten Gedichtband schilfern unterzieht Bründl das Patriarchat und die Figur des Vaters einer Kritik. „Es haben die Väter versagt“, heißt es kategorisch gleich zu Beginn.
Die sanfte Stimme der Autorin bildet einen Gegensatz zur Heftigkeit der Texte und zur Erbarmungslosigkeit ihrer Gesellschaftsdiagnose. „Meine Sprache ist die der Mörder“, schließt sich auch das lyrische Ich in schuldhafte Zusammenhänge ein. „Schilfern, landschaftliche Nebenform von: schelfen = (ab)schälen, zu Schelfe“, erklärt der Duden das titelgebende Verb. Hier bleibt nach dem Schälen nur noch die nackte Wahrheit übrig. Die Tochter erklärt sich zum Makel des Vaters, zum verfehlten Ziel, zur Schande, zum Wahn. „Das Kind, das du liebst, die Frau, die du verachtest.“
Es ist vollbracht. Finale Bücherverlosung. Beschenkt, erleichtert und ein wenig traurig geht das Publikum in die Nacht. Denn jetzt dauert es wieder ein Jahr bis zur nächsten Poesiegalerie.

Kirstin Breitenfellner, Sven Jakobson, Udo Kawasser, Rhea Krčmářová, Günter Vallaster

