Christian Steinbacher liest Heinz Peter Geißlers Ich geh mir einen Vogel fangen u.a. als Winterlektüre
Mein Winter ist vergangen Mein Haus ist wieder dunkelblau Ich geh mir einen Vogel fangen

So das erste Terzett des ersten Gedichts einer Gedichtfolge über einen Vogelfänger, der sich in diesem Eingangsstück vorbereitet und seine Leimruten mit einem Tuch glattreibt. Abgesehen von dem Ausreißer eines jambischen Dreihebers als letztem Vers im zweiten Terzett („Die Ruten sind noch rau“) finde ich in den Versen der weiteren vier Terzette des Gedichts dann stets das dadurch Oberhand gewinnende Maß des zweiten Verses dieses ersten Terzetts, dessen Schema ich zum Bezugspunkt meiner Lektüre erhebe.
Schlüpft er aus seinem Nest heraus Und flugs in meinen feinen Leim Wie eine taube Fledermaus
Nein, nicht gleich nach Erscheinen von Ich geh mir einen Vogel fangen u.a. habe ich ein Exemplar dieses Buchs erworben. Die im Titel aufgerufene Gedichtfolge war ja schon in einer Nummer der Zeitschrift Zwischen den Zeilen aus dem Jahr 2000 enthalten, und beeindruckt von der Lektüre habe ich den Kollegen kurz darauf zu einer Lesung eingeladen. Im Laufe der vielen Jahre seither habe ich das eine oder andere Gedicht daraus auch wiedergelesen, stets von neuem erstaunt darüber, welchen Sog diese Lektüre hervorrufen kann. Als dann 2024 Geißlers jüngstes Buch (schwarz das Fell) erschien, bestellte ich auch das Buch mit der Vogelfänger-Gedichtfolge. Das im Titel als u.a. gefasste Material bringt zusätzliche Texte: zum einen weitere Verse, die zu einem Großteil, und wenn sie von ihm auch absehen oder es stören, auf dem genannten Schema aufbauen, und zum andern ergänzende Reflexionen, die außerhalb der Verse siedeln und doch Teil der poetischen Arbeit sind. Und dieses Auswachsen zu Bündeln an Gedanken und Notizen als auch die eigenwillige Vermengung der Ebene des Gedichts und der Ebene der Überlegungen beschäftigt mich nun ebenso wie die zentrale Gedichtfolge.
Im alternativen Neueinsatz karikiert der Dichter sein Leitgedicht:
Ich fang mir einen Silberfisch Und fange mir Gespenster ein Ich schlafe auf der Hausbank ein
In den Reflexionen wird dann sogar ein Aberkennen von jeglicher Wichtigkeit ausgerufen: „Entwichtigt im Sog, im Kreisel, was weiß ich.“ Und angenommen wird eine Sprache der Pflanzen, denen der Dichter ein Wissen und Wollen zuschreibt, und er, der auch plant, sich einen Wald zu machen, versetzt sich in Bäume, aber auch in Phosphor:
Der Wind ist mein Mann Ich bin die Phosphorfrau Weil ich ihn nicht verbrennen kann
So holpert dann dieses alleinstehende Terzett. Der Dichter/Sänger/Vogelfänger macht Beobachtungen („Von Weitem sind die Bäume groß / Von Nahem sind sie alt“), und er teilt uns mit, dass, wenn Missverständnisse freundlich sind, sie dem Instinkt eine Bresche geschlagen haben. Er denkt an Zuckervögel und deren ausgefranste Zungen wie auch an ihre kugelförmigen Nester (aber auch an „Die hundert Zungen von Marie“). Zum Schluss wird er sich vorgenommen haben, eine Kugel zu bauen: „Im Inneren eine Schwerkraft, die jeden Laut auf gleichem Abstand hält.“
Jetzt aber noch einmal in den titelgebenden Zyklus hineingedacht:
Werden Verse durch differierende Zäsurierungen oder Enjambements angereichert, gefällt mir das. Gerade diese Möglichkeiten kommen hier jedoch nur spärlich zum Einsatz. Ein Verlebendigen gelingt aber auch, wenn ein metrisches Schema immer wieder nur leicht gebrochen wird, und das Nachverfolgen solcher Abweichungen ist mir eine Freude beim Lesen. Ich hatte in Erinnerung, dass ein bestimmtes Schema den Rhythmus vorgibt und antreibt. In der neuen Lektüre erkenne ich, dass sich, wenn auch in Minderzahl, so doch auch weibliche Versausgänge, Zwei- und Dreiheber und Verse mit Trochäen einfinden. Einprägsam bleibt jedoch die durchgehende Alterierung, also eine konsequente Vermeidung des Daktylus. Auf Grund seines überwiegenden Vorkommens lässt sich wie gesagt ein grundlegendes Schema als Bezugspunkt setzen, auf den hin ich dann auch die Abweichungen lese. 8 Zweihebern und 57 Dreihebern stehen 250 Vierheber gegenüber, und 158 dieser Vierheber enthalten vier Jamben mit männlicher Kadenz und entsprechen somit genau dem von mir herausgestellten Schema. (Selbst der Vierheber im Titel zeigt sich dann genau genommen aber in Ausnahmestellung, sind zwar 250 der 315 Verse der Gedichtfolge Vierheber, aber nur 13 davon mit weiblichem Ausgang.)
Nicht wenige dieser Gedichte sind über weite Strecken oder gar fast durchgehend gleich getaktet. Ich erinnere an die schon erwähnten aufeinanderfolgenden Verse im ersten. Ein gänzlich gleiches Metrum weisen die Verse im letzten Gedicht der Folge auf, wobei jedoch gerade in diesem Finale nicht das von mir auserkorene Schema, sondern ein Vierheber aus drei ganzen und einem gekappten Trochäus zum Einsatz kommt, eine Form, die mit der Ausnahme des einen Auftakt ergänzenden und dadurch das Schema aufrufen lassenden ersten Verses auch alle Verse des elften Gedichts bestimmt. Im neunzehnten Gedicht wird das Schema nur im mittleren Vers der mittleren Strophe zu einem jambischen Dreiheber verkürzt, und im siebenten Gedicht nur in Vers 10. Und so weiter. Nun noch ein konkreter Blick aufs Detail: Im fünften Gedicht folgt auf die Silbenerweiterung in Strophe 3 („Gleich fass ich einen an / Er ist noch klein geblieben / Die Flügel drehen sich und dann“) eine diese spiegelnde Silbenverminderung in Strophe 5 („Ich halte seine Flügel fest / Er kann erst wieder fliegen / Wenn man ihn fliegen lässt“). Und dann noch ein Terzett mit einem beschließenden Zweiheber im achten Gedicht, wo ein jambischer Vers den ihm vorangehenden ungewohnt trochäischen Versen entgegentritt:
Grüne Bäume da im Moos Ja das ist der gute Wald Den reiß ich los
Keinen geringeren Antrieb als das von mir gerne bevorzugt beachtete Metrum gibt den Gedichten das Spiel der Reime. Die fünfstrophischen Gedichte aus je drei Versen reimen in der Regel nach dem Bauplan von Terzinen (also aba / bcb / cdc usw.), lassen aber entgegen der Regel für Terzinen (deren längere Verse im Übrigen nicht so einen Schwung erwirken können) den mittleren Vers der letzten Strophe ohne Reimbindung zurück, und dieser Nicht-Abschluss treibt ebenfalls an und weiter. Auch die Perspektivierung wechselt, ist doch in einigen Gedichten das Ich nicht der Fänger/Sänger, sondern der Vogel. Und dann fällt mir auf, dass die Verse in Emanuel Schikaneders Lied des Papageno in Mozarts Zauberflöte ebenfalls das Maß des von mir herausgestrichenen Schemas aufweisen, und zwar alle. Die dortige Konnotation mit Mädchen sei hier zwar unterschlagen, der Beginn der Arie aber erinnert: „Der Vogelfänger bin ich ja, / Stets lustig, heißa! hopsassa!“ Und egal, ob so etwas in unserem Fall überhaupt mitgedacht werden kann: Überschriebene Liedvorlagen sind mir oft ein Genuss. Als erstes fällt mir dann immer die Überschreibung von Hans Albers’ „Fliegerlied“ in H. C. Artmanns Botanisiertrommel ein. Zucker wird dort nicht gereicht. Der Raum, in den der Vogel fliegt, ist leer, lesen wir bei Geißler. Und: „Fang einfach an, fang an. Das alte Lied begeistert die Stirn, die geplatzten Ohren vergeben dir.“
Heinz Peter Geißler, 1962 im Allgäu geboren, lebt in München und in Cormoret. Er studierte Philosophie und war ab 1990 freier Redakteur und Lektor. Es liegen drei Bücher bei Engeler vor. Er hat auch Texte für Kinderbücher verfasst. Dass einfache Wörter auch seine Gedichte und Prosa geleiten, mag da passend anschließen. Das ist gut, und auch ein mahnender Finger und Gegenpart zu meinem eigenen Tun, das sogar im Gedicht manchmal zu Wortwiederholungsvermeidung und ausgefallener Wortwahl tendiert, na und vielleicht zeitigt die Lektüre dann für dort ja sogar einen dies betreffend bereinigenden Impuls. Demnächst treffe ich den Kollegen nach vielen Jahren wieder und freue mich darauf.
Heinz Peter Geißler: Ich geh mir einen Vogel fangen u.a. (Bd. 3 der Neuen Sammlung), Engeler Verlag, Schupfart 2021, Euro 10,00

