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Alles spüren, aber an nichts zerbrechen

Alles spüren, aber an nichts zerbrechen

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Daniela Chana liest den Gedichtband „Mein Geliebter, der Wind“ von Elisabeth Reichart


Eines der ganz großen Kunststücke im Leben besteht darin, offen für tiefe Gefühle und dennoch emotional stabil zu bleiben. Der neue Gedichtband „Mein Geliebter, der Wind“ von Elisabeth Reichart, der 2019 im Otto Müller Verlag erschienen ist, zeigt gekonnt, wie es funktionieren kann.

In den Gedichten der 1953 in Oberösterreich geborenen Autorin findet ein permanenter Dialog mit der Natur und den Elementen statt. Das lyrische Ich ist hier nicht riesengroß, begreift sich nicht als Mittelpunkt der Welt, sondern wirkt nahezu gleichberechtigt neben dem Wasserfall, der Erde, dem Regen und vor allem neben dem Wind. Hier hat auch Leidenschaft einen Platz, aber eine erwachsene, keine naive, schwärmerische, die sich Illusionen und Projektionen hingibt. Das lyrische Ich erlebt mit allen Sinnen, aber bleibt sachlich genug, um auf kluge Weise über das Gespürte zu reflektieren.

Jene Gedichte, die von Liebe handeln, unterscheiden sich auf wohltuende Art von Teenager-Gedichten, die am Bettrand sitzend eilig hingekritzelt werden. Vielmehr spürt man, dass dem Schreiben trotz aller Leidenschaft ein Nachdenken vorangegangen ist, ein Einordnen, und dies macht die Texte so lesenswert.

© Copyright Otto Müller Verlag

Es gibt sie auch hier, die Erschütterungen, Ängste und depressiven Verstimmungen („Wieder ein Tag / dem ich nicht öffne“), aber sie werden bewältigt, sie werden überlebt. Von einem Ich, das alles spürt, aber an nichts zerbricht. Wahrscheinlich, möchte man vermuten, weil es die Sprache hat, die Halt und Schutz bietet: „Hautlos / durchsichtig / einsehbar / ziehe ich mir / meine Worte an“.

Auch wenn es an einer der schönsten Stellen des Bandes heißt: „in mir singen die Vögel / und sie wissen von nichts“, so ist dies doch kein Bekenntnis zu einer unreflektierten Gefühligkeit, sondern seinerseits wiederum Resultat eines Nachdenkens, eines Einordnens. 

Reichart, die Germanistik und Geschichte studiert hat, versteht die Kunst, sanft und unaufdringlich zahlreiche intertextuelle Bezüge in ihre Gedichte einzuflechten. Figuren aus Märchen, der griechischen Mythologie und auch der Bibel tauchen immer wieder auf und stehen gleichberechtigt nebeneinander. Sie begegnen einander zuweilen innerhalb eines Textes, ohne um ihren Platz kämpfen zu müssen. „Springt Worte, springt“, schreibt Reichart, und die Worte springen durch all diese Welten, all diese Zeiten, die sich mühelos zusammenfügen.

Der Ton von Reicharts Gedichten ist durchwegs ruhig und unaufgeregt, aber doch alles andere als abgeklärt oder gar spröde, sondern feinfühlig und voll tiefer Sinneseindrücke. Hier begegnet der Leserschaft ein Geist, der hellwach die Umgebung wahrnimmt und sofort Zwiesprache mit sich selbst führt: Was bedeutet dieses Bild für mich? Was hat dieses Naturschauspiel mit meinem Inneren zu tun? 

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Die Lyrik von Elisabeth Reichart bietet Erholung von den aufgeregten, lauten Teenager-Gedichten vieler Dreißigjähriger (die Rezensentin schreibt dies nicht ganz ohne Selbstironie). Hier spricht ein erwachsenes, kluges Ich, das die Fixierung auf das rein Subjektive überwunden hat, sich einem größeren Ganzen zuwendet und dabei dennoch persönlich bleibt.

Elisabeth Reichart: Mein Geliebter, der Wind, Gedichte, Salzburg: Otto Müller Verlag, 2019.

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