Now Reading
leben ist kunstflug & auch eine leere

leben ist kunstflug & auch eine leere

Logo Besprechung I

Monika Vasik liest weil es keinen grund gibt für grund von Axel Görlach


Man darf sich Axel Görlach als bedachtsamen Lyriker vorstellen, der neben einem Beruf als Sprachlehrer seine Gedichte langsam und konsequent wachsen lässt. 2009 debütierte er mit dem Gedichtband leben gezeichnet, 2015 folgte lichtstill. Nach weiteren sechs Jahren Reifezeit veröffentlichte er nun seinen dritten Lyrikband. Es greift jedoch zu kurz, Görlach bloß als Dichter wahrzunehmen. Denn er geht zwei Künsten nach, widmet sich sowohl der Fotografie als auch der Dichtung, die sich im vorliegenden Band ergänzen und bereichern. Gern lässt der Künstler Reiseeindrücke in seine Texte einfließen. Zudem schätzt er Musik, denn sein Buch ist durchzogen mit Anklängen an Songs und Lieder.

weil es keinen grund gibt für grund ist die Antwort auf eine Frage, die wir nicht kennen. Es könnte die Frage nach dem Warum eines Geschehens, weiter ausholend die Frage nach dem Warum der Welt und des Lebens sein. Das Wort „grund“ hat mehrere Bedeutungen. Er kann ein Acker sein oder eine Straße, das Fundament eines Gebäudes, der Boden eines Gewässers oder eines Gefäßes. Andererseits bezeichnet „grund“ ein Motiv, eine Ursache oder einen Anlass. Das Wort findet man zudem in Formulierungen wie „zugrunde gehen“, womit das Sterben, das zu Ende Gehen eines Lebens, einer Ära, eines Betriebs usw. benannt ist.

© Copyright edition keiper


Mit diesen Mehrdeutigkeiten spielt der Titel „weil es keinen grund gibt für grund“. Aufgenommen wurden viele Texte, die bereits anderswo veröffentlicht wurden oder mit denen der Lyriker Preise gewann. Görlach, der u.a. 2014 mit dem Feldkircher Lyrikpreis ausgezeichnet wurde, erhielt zuletzt für seinen Zyklus „natürliches koma“, der das dritte Kapitel dieses Bands einnimmt, den erostepost-Literaturpreis 2020.

Versucht man eine thematische Linie durch die fünf Abschnitte des Buchs zu legen, so drängt sich der Begriff „Bewusstsein“ auf. Damit ist weniger jene im Buch auch vorkommende Bewusstheit gemeint, die politischen Umständen, klimatische Veränderungen oder Mitmenschen achtsam begegnet und sich verhält, sondern das Bewusstsein als Funktion unseres Gehirns, das klar ist, manchmal verloren geht, sich eintrübt durch Substanzmissbrauch, Medikamente oder behindert wird infolge traumatischer Erfahrungen, die als Flashbacks hochdrängen. Was davon ist sagbar, kann wie in Worte gefasst werden?
Das Buch beginnt mit dem Zyklus „slavkovský les – grenzland“, der bewegten Geschichte des Kaiserwalds, einem Mittelgebirge zwischen den tschechischen Kurstädten Karlsbad, Marienbad und Franzensbad. Ab dem Mittelalter wurde hier Bergbau betrieben, unter anderem Zinn, später auch Uran abgebaut. Zahlreiche jüdische Gemeinden bestanden bis in die 1930er Jahre. Nach dem 2. Weltkrieg wurden auch die Deutschböhmen vertrieben, alte Siedlungen ausgelöscht. Der Kaiserwald war eine Grenze der Warschauer-Vertrags-Staaten und ist heute Naturschutzgebiet.
Die 15 Gedichte dieses Zyklus, die statt Titeln Ziffern von 1-15 tragen sind Tiefenbohrungen in die Geschichte oder Seismografien beim Nachgehen, Nachspüren der Ereignisse. Da wird das schweißtreibende Malochen im Bergwerk wachgerufen, werden Gefahren durch Radon und Unfälle erinnert und die Flucht jüdischer Frauen thematisiert:

... regen fällt & vögel
singen um ihr leben
frisst sich die kälte in zwölf frauen, die
laufen so weit der rest atem reicht
splitternde zweige, schüsse, ihre echos
hallen den wald leer & aufgescharrt
ist das gefrorne erdreich
in das sich eine hand krallt, sie ähnelt
einer wurzel, der ich ausweiche
als die bäume der schatten verschwinden
stehe ich auf dunkler lichtung
in einem kreis aus zwölf granitblöcken –
warm sind ihre oberflächen & tragen
steinhäufchen, namen, rebecca vielleicht
kann ich noch andre entziffern
während hoch über uns in der luft
die jagdaugen eines trupps libellen stehen

Zurück blieben im Kaiserwald „brüchige echos“ der Geschichte, Häuserruinen, verfallende Gräber und leere Bunker, die von der Natur zurückerobert und vom lyrischen Ich mit „wunden / sprachfingern aus papier“ nachgezeichnet werden.
Der zweite Abschnitt trägt den Titel „clips“. Vorangestellt ist ein Schwarzweißfoto. Zwei Gestalten befinden sich in einem unwirtlichen Raum, kehren einander den Rücken zu. Die eine, ein Mann, ist vertieft in eine Lektüre. Von der anderen, einer männlichen Statue aus weißem Marmor, sehen wir nur den Kopf im Profil, den rechten Arm und die muskulöse Brust. Das Gesicht offenbart Entsetzen vor etwas, das nicht auf dem Foto zu sehen ist, die Haltung ist im Gestus des Zurückweichens eingefroren. Es sind zwei Männer, die, obwohl im gleichen Raum, ganz unterschiedliche Erfahrungen ausdrücken. Die anschließenden Textclips ähneln kleinen, filmähnlichen Sequenzen. Es beginnt mit Momentaufnahmen eines durch Alkoholeinfluss und/oder Halluzinogene eingetrübten Ichs, das „im schoß des ackers“ liegt, von Insekten bekrochen wird und dessen Pupillen beim Wahrnehmen der Umgebung „synchronspringen“. Andere Gedichte werfen Blicke auf das geteilte Istanbul oder das Kidrontal, bleiben im Harz, das Album „Nebraska“ von Bruce Springsteen im Ohr, oder notieren Erinnerungen zur Musik von Pink Floyd. Manche dieser Clips zeigen Kippmomente, thematisieren ein Dissoziieren der Wahrnehmung und kreisen um das Sagbare sowie die Verletzbarkeit des Sprechens, damit der Möglichkeit, sich mit Worten auszudrücken, mit ihnen aus dem „gestöber“ von Eindrücken und Erinnerungen erst die „geburt der geschichte“ zu ermöglichen. So ist etwa im Gedicht „zeichenplankton“ die Funktion des Gehirns eingeschränkt durch eine Störung der beiden Sprachzentren:

... im kopf kurz
schluss zwischen broca-wernicke-klippen
wirbeln splitter von vertrauten blicken &
die fetzen alter texte halb versunken halb
zersungen ...

ein Zustand, in dem „mein zungen / muskel“ keine Worte mehr, sondern nur noch „ein aphasisches geflimmer“ bildet. In „artischockenquarz“ wiederum ist es der Kehlkopf, der beim Sprechen versagt, weil ein „stimmband / am rand der wörter hängen“ bleibt. Das Gedicht selbst trägt zudem ein Stottern in sich, wenn der Lesefluss durch hochgestellte Zeichen – Buchstaben, ein Sternchen, eine Ziffer – unterbrochen wird, die auf Fußnoten hinweisen, die keine Entsprechung im Buch finden. Wortfügungen wie „zu grunde reden“ oder ein Gedicht, das nur mehr aus dem Vers 

in dieser zeile kann     nichts mehr     stehen

besteht, bereiten dramaturgisch den Weg zum Höhepunkt, dem dritten Kapitel. Es enthält das Herzstück, den bereits erwähnten Zyklus „natürliches koma“. Er setzt sich schon optisch deutlich ab, denn er ist im Querformat gedruckt und wird eingeleitet mit:

Am 17. April hält Gastdozent L. eine Vorlesung über Posttraumatic 
stress disorder in adolescents. Anstelle eines Vortrags liest er diesen Text.

Wir erfahren nicht in welchem Jahr, nur der Tag des Vortrags und der Zeitraum ist umrissen. Grundgerüst ist eine Art Reisetagebuch, das am 16. April um 5.54 Uhr mit der Abfahrt in einem ICE beginnt und am 17.4. um 14.55 Uhr vor dem Vortrag an der Universität endet. Gegliedert ist es durch Zeitangaben in eckigen Klammern, denen manchmal Ortsangaben beigefügt werden: ICE, Altstadt, Parkbank und Uni. Zwei Abschnitte sind ohne Zeitangabe, nämlich [Nacht, Intercity-Hotel] sowie [Café].
Der Zyklus ist ein Terzett, eine Melange dreier Stimmen, und setzt ein mit der langsamen Ausfahrt aus dem Bahnhof. Die männliche Hauptstimme blickt aus dem Fenster des ICE auf die vorbeifliegende Landschaft und verortet sich, versucht, was nicht einfach sei, sich „zur landschaft zu verhalten“, seine Aufgabe sei es, „am fenster zu sitzen“ und das Sehen zuzulassen. Im Abschnitt [7.04] sind es die Mitreisenden, die er beobachtet. Erinnerungsschnipsel drängen sich dazwischen, die so jäh abbrechen wie manche seiner Gedanken und Sätze, während er versucht, „die echos zu ordnen“, sie mitzuschreiben. Wahrnehmungen verschieben sich und allmählich sickert sein Trauma durch, bruchstückhaft, schließlich als Flashback im Café: Vor Jahren, vielleicht Jahrzehnten – das Wort „adolescents“ lässt darauf schließen – ist seine Freundin Clara beim Paragleiten abgestürzt und er war beim Absturz dabei.

See Also

wingover gleitschirm klappt ein wo? nur weg vom
weg vom berg! schwimmen in luft fallwind steil wand kommt
geflogen kommt clara wie vogel aus stein aus himmel stoß
kommt woher clara die leinen! strömung reißt staaaaaa
bilisieren wirf den retter den retter! was trudeln türkis muss

Dieser Schrei, der aus dem Gedicht schreit, und dann … „clara hat es nicht geschafft“. Über das Trauma helfen weder Therapien noch Antidepressiva hinweg, unterstützen ihn nur dabei, seine Panikattacken zu übertauchen.
Spätestens beim Vergleich „wie ein ausgemalter tag“ drängt sich Hintergrundmusik auf, nämlich das Lied „Vincent (Starry Starry Night)“ aus den 1970er Jahren, in dem die elegische Stimme von Don McLean das tragische Leben und den Tod des Malers Vincent van Gogh besingt. Dort heißt es „With eyes that watch the world and can’t forget“, hier sieht der Mann aus dem Zugfenster und vermag nicht zu vergessen; „lie crushed and broken on the virgin snow” könnte die verloschene Clara sein; “And how you suffered for your sanity” beschreibt auch den gebrochenen Mann des Gedichts, der in seiner Leere seit Jahren neben sich steht.
Der Fluss der Hauptstimme im Gedicht wird durch zwei Nebenstimmen ergänzt, die dazwischenfunken. Links eingerückt werden in Versalien erinnerte Zitate von Clara oder Zeilen, die mit ihr in Verbindung stehen, rechts in Kursivschrift Nonsenszitate, etwa Ausschnitte bekannter Liedtexte, die fast bis zur Unkenntlichkeit verwandelt werden und den Eindruck des verschobenen Bewusstseins und Nichtbegreifens verstärken. Den Vortrag an der Uni wird Gastdozent L. vermutlich halten, auch wenn er bis zum letzten Vers zweifelt:

            ich werde von uns sprechen, von erschütterung,
als gäbe es worte dafür

Im vierten Kapitel „falsche buchten“ schließt ein „multicore-sound“ an, in dem der Blues des dritten Kapitels nachklingt, etwa im Gedicht „persönliches“, das in sieben Zweizeiler gegliedert ist, von denen hier Anfang und Ende zitiert seien:

einen versschatten haben müssen, ein mantra
das sich nicht verflüchtigt draußen unter gesunden
. . .
doch es bleibt. mich mit wald zu behandeln mit musik
einen faden suchen, der mich wieder aufnimmt

Der fünfte und abschließende Zyklus trägt den Titel „rodinia“, eines hypothetischen Superkontinents, der vor 11 Milliarden Jahren entstanden sein soll und in dem die Kerne der späteren Kontinente noch vereint waren. Auch er kann als Nachklang zum dritten Zyklus verstanden werden. „rodinia“ besteht aus zehn Gedichten, die den Titel „tracks“ tragen und fortlaufend nummeriert sind. Track als Beschreibung eines zurückgelegten Wegs wäre eine Variante, doch es sind eher Erinnerungen in Form kurzer Lieder, worauf die Titelanordnung am Ende des Kapitels in Form einer CD hindeutet, Lieder, die pubertäre Träume anklingen lassen und von der Kürze und den Widrigkeiten des Lebens erzählen. Sie bilden den Abschluss eines Buchs, das vom Leben auf unsicherem Grund erzählt, von jähen Brüchen, Erinnerungsspuren und existentiellen Erschütterungen, denen Axel Görlach mit seiner vielschichtig verdichteten Sprache eine überzeugende Struktur gibt.

Axel Görlach: weil es keinen grund gibt für grund. Gedichte. keiper lyrik nr. 24. edition keiper, Graz 2021. 120 Seiten. Euro 16,50

Scroll To Top