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Monika Vasik liest azur ton nähe von Siljarosa Schletterer


Cover des Gedichtbands "azur ton nähe" (Limbus) von Siljarosa Schletterer

Fließendes Wasser übt seit eh große Faszination auf Menschen aus und wird, ob als Bach, Flüsschen oder Strom, mit vielerlei Geschichten und Erfahrungen assoziiert. Flüsse sind beliebt als Orte der Anschauung, der „resonanz“ und „flowmeditation“, man denke etwa an sanftes Plätschern, das Wellenspiel oder die Kaskaden eines Wasserfalls, und sie dienen der Erholung, der Sportausübung und als Transportwege. Ein Fluss folgt den Gesetzen der Schwerkraft und so ist seine Fließrichtung physikalisch vorgegeben: von einem höheren Niveau zu einem tiefer liegenden plätschert oder strömt er, mal sacht und träge, mal wild, mitreißend, manchmal zerstörend. Man weiß um die Gefahren, die von der Naturgewalt Fluss ausgehen, denn Wasser ist schwer zu bändigen. Menschen versuchten mit wechselndem Erfolg, Flüsse zu beherrschen, einzudämmen und zu begrenzen, sie zu begradigen und zu lenken, etwa durch Deichbauten, Kraftwerke oder durch Anlage von Kanälen.

© Copyright Limbus Verlag

Zugleich dient die Lebensader Fluss in der europäischen Geistesgeschichte seit Jahrtausenden als Metapher und Gleichnis für Wandel und Veränderung, etwa in Heraklits Formel „panta rhei“, dem später latinisierten „cuncta fluunt“ (alles fließt) in Ovids Metamorphosen. Es ist eine Paradoxie, die Philosophie und Künste inspirierte und beschäftigte. Heraklit hat in seinen naturphilosophischen Thesen, vereinfacht ausgedrückt, das Sein mit dem steten Wandel eines Flusses verglichen. Man könne nicht zweimal in denselben Fluss steigen, weil Mensch und Fluss nicht mehr dieselben seien. Auch Platon nahm darauf Bezug, dass alles Seiende einem strömenden Fluss gleiche. Die spanische Mystikerin und Kirchenlehrerin Teresa von Ávila (1515-1582) wiederum erklärte in ihrem Hauptwerk „Die innere Burg“ ihre Vorliebe für das Gleichnishafte des Wassers:

Ich finde nämlich nichts, was zur Erklärung mancher geistiger Dinge geeigneter wäre als
eben das Wasser, und zwar deshalb, ... weil ich dieses Element so liebe, dass ich es mit 
mehr Aufmerksamkeit betrachtet habe als andere Dinge.

Und es verwundert nicht, dass Flüsse auch auf Dichter*innen eine enorme Faszination ausüben. Es ist eine schöne Koinzidenz, dass sich in der Lyrikreihe des Limbus-Verlags mittlerweile eine eigene Rubrik zu etablieren scheint, die sich dem Bezugssystem Fluss in seiner Vielgestaltigkeit widmet. So verdichtete Barbara Pumhösel in ihrem Langgedicht Die Distanz der Ufer Lebenszeichen an ihren beiden „Heimat“flüssen Erlauf und Arno sowie entlang der Donau. Udo Kawasser entwickelte in die blaue reise. donau-bosporus eine dialogische Beziehung zweier Liebender, verortet an Donau und Bosporus. Und nun legt die Dichterin und Kulturvermittlerin Siljarosa Schletterer ihr beeindruckendes Lyrikdebüt azur ton nähe vor, das durch elf vielschichtige Grafiken des Künstlers Franz Wassermann bereichert wird. Sie stellt, anders als die zuvor erwähnten Lyriker*innen, in den vier Kapiteln ihres Bands nicht einzelne Flüsse in den Mittelpunkt, entlang derer sie ihre Texte webt, sondern ein Gewebe an Flüssen Mitteleuropas. Dabei begegnet sie großen wie der Donau, dem Inn oder dem Rhein mit derselben Achtsamkeit wie kleinen, ja kleinsten Nebenflüssen, etwa dem Arzler Bach, dem Floitenbach oder dem Mühlbachl, die ihr Wasser in den Inn und damit in die Donau fließen lassen. Und Schletterer schaut weit über Mitteleuropa hinaus, wenn sie ihren Blick Richtung Nordsee wendet oder ans Mittelmeer.

Untertitelt ist der Band mit dem Wort „flussdiktate“, was zweierlei Interpretation zulässt. Man kann sich die Dichterin am Ufer eines Flusses vorstellen, die ihre Gedanken beim Anblick des Wassers schaukeln, driften und mäandern lässt, dabei Impressionen und fluide Lebenszeichen in ihr Smartphone diktiert oder mit dem Stift aufs Papier kritzelt, um sie später als Textmaterial verfügbar zu haben. Oder man imaginiert sie sich als aufmerksam Zuhörende, als Mittlerin, die in ihrem Konzeptband das Wasser als Gleiches zeigt. Alles, was ein Fluss und „die grammatik der wellen“ zu erzählen vermögen, all das, „was uns wasser lehrt“, verwandelt sie in menschliche Sprache. So macht sie „in meinem alphabet der wasser poesie“ nachvollziehbar, „was dichtung über wasser weiß“, weil sie selbst dies von einem Fluss und seiner nahen Umgebung erfahren hat. Es drückt sich in Schletterers Danksagung am Ende des Bandes aus, wenn schon an zweiter Stelle die Gewässer stehen, denn

ihr habt mich nicht nur das Schwimmen, sondern auch das Schreiben gelehrt

Doch nicht „der Fluss“ in seiner Ganzheit wurde zur Quelle eines Textes, sondern wechselnde Inspirationsorte an Flüssen, deren Koordinaten in Grad, Minuten und Sekunden dem Titel jedes einzelnen Gedichts hinzugefügt sind. So heißt es beispielsweise:

lech 47°26'12.3"N 10°38'08.5"O

Man könnte nun diese Koordinaten in ein Online-Geoinformationssystem eingeben, um den Ort ausfindig zu machen. Manchen Flüssen wurde ein einziger Inspirationsort und damit ein Gedicht zugeordnet, anderen mehrere. So gibt es je zwei am Kamp oder an der Donau, drei am Mühlbachl und gleich fünf entlang des Inns, was wohl mit biografischen Bezügen und Wegmarken der Tiroler Dichterin zu tun hat, die das Besondere sucht und weiß

nicht alle strömungen
sind
ein gedicht

Interessant ist die grafische Gestaltung vieler Gedichte, deren Strophen oft stufig angeordnet sind, auf der Buchseite jeweils von links oben in einer Abwärtsbewegung nach rechts unten, und damit die durch die Schwerkraft bedingte Fließrichtung des Gewässers nachzubilden scheint oder die Kaskaden eines Wasserfalls. Andere Texte vollziehen im Layout auf einmal eine Wendung der Strophen nach links, was den nie linearen Lauf eines Flusses nachzeichnet.

In den Gedichten erscheinen Flüsse als lebende Wesen, die im Besitz von Emotionen und von Wissen sind. So heißt es, „jeder fluss hat eine seele“ und eine eigene Biografie, jedes „wasser hat seinen eigenen fingerabdruck“, den man am Kräuseln der Wellen erkennt. Schon

bäche sprechen ihre eigenen sprachen

erst recht die Flüsse. Jeder ist einzigartig durch seine Sprache und besitzt ein eigenes „klangrevier“, das weithin zu vernehmen ist. Denn Wasser und damit jeder Fluss ist auch Ton- und Klangmaterial fürs Gedicht. Schletterer bringt hier als Musikerin und Musikwissenschaftlerin diese Flussmusik kenntnisreich mit anderer Musik, musikalisch konnotierten Motiven und mit Sprachklängen in Verbindung. So lässt sie Olivier Messiaens „Quartett für das Ende der Zeit“ in einem Gedicht am „dijksgracht“ anklingen; oder die Verbindung Poesie und Punk in „herzbach“, einem Widmungsgedicht für den sie geprägt habenden Poeten Christoph W. Bauer und dessen Lyrikzyklus „mein lieben mein hassen mein mittendrin du“; oder Sagenmotive wie die Nixe und den schwarzen Schwan.

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Trotz aller Singularität verhalten sich Fließgewässer zueinander, stehen in vielfältiger Beziehung und bilden ein Geflecht, doch „ihr sozialgefüge / wird unterschätzt“, meint die Dichterin. Es sind menschenähnliche Verbindungen, die glücken, manchmal durch Ungleichheit geprägt sind und fluiden Adel, manchmal durch Streit und quasi kriminelle Machenschaften, die gelegentlich einen Hauch antiker Mythologie atmen, wenn es etwa heißt „nur durch eine miese / schlinge / bezirzte der rhein // die aare“.

Oft taucht in den Texten ein lyrisches „du“ auf. Im dritten Kapitel „nähe“ ist dieses „du“ ein Mensch – die Gedichte umkreisen die Themen Liebe, Begehren, Sehnsucht und Enttäuschung. Fast immer ist hier auch das Wasser präsent, das Trost spendet, klärt und Hoffnung gibt. So heißt es im schon erwähnten Gedicht lech:

immer wenn du gehst
münde ich bei den weiden
umarme die gewässer

In anderen Texten ist das „du“ gerichtet an einen Fluss und Ausdruck einer Kommunikation mit dem Wasser. Und es gibt Gedichte, wo dieses Subjekt „du“ uneindeutig bleibt, sowohl Mensch als auch Fluss sein könnte. Dieses Konzept des „du“, das Wasser als Gleiches begreift, macht ein anderes Erleben von Welt möglich. Nicht mehr der Homo sapiens steht als dominante Art über allen anderen, sondern er wird ein Gleicher innerhalb der Schöpfung, was ihn zu mehr Achtsamkeit verpflichtet – ein drängender zeitgenössischer Ansatz, denkt man an Artensterben und drohende Klimakatastrophen, hier akzentuiert mit Kritik an der Sprache der Macht und an Wirtschaftsformen. Als Antwort auf das Konzept Herrschaft und als Gegenentwurf zum göttlichen Auftrag der Genesis, dass der Mensch sich die Erde unterwerfen solle, mahnt Schletterer Verantwortung ein und regt die Utopie einer „liebesartenvielfalt“ an.

Das vierte und letzte Kapitel „sonderkoordinaten“ enthält nur einen einzigen Text und einen QR-Code, der als Sesam-öffne-dich sinnliche Erfahrungen bereithält. Neben einigen weiteren Gedichten, die ich gern im Buch abgedruckt gesehen hätte, gibt es eine Hörfassung einiger Texte und ein Video. Eine spannende mediale Erweiterung eines geglückten Debüts.

Siljarosa Schletterer: azur ton nähe. flussdiktate. Mit elf Grafiken von Franz Wassermann. Limbus Verlag, Innsbruck / Wien 2022. 96 Seiten. Euro 15,-

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