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Leben durch Musen

Leben durch Musen

Ein paar persönliche Betrachtungen zum Tod von Friederike Mayröcker

Udo Kawasser

Kuba im Juni 2006. Ich befinde mich erneut in der Provinz Guantánamo, wo ich vier Jahre zuvor mit einer lokalen Tanzgruppe eine Choreographie zu Kleist Penthesilea entwickelt hatte. Die großteils unberührte Küste in dieser östlichen Provinz hat es mir als Schnorchler angetan und so steige ich auch diesmal wieder mitten auf der Strecke bei Tortugillas von der Ladefläche des LKWs, der hier den Bus ersetzt, verstaue meinen Rucksack in einer Felsnische und tauche mit Brille, Flossen und einer Unterwasserkamera in die bunte tropische Wasserwelt ein. Als ich nach einer Weile den Kopf hebe, sehe ich zwei Soldaten der Küstenwache, die mich herauswinken. Sie wollen meine Dokumente sehen. Da ich meinen Pass in der Wildnis nicht leichtfertig aufs Spiel setzen wollte, hatte ich nur eine Fotokopie eingesteckt. Das genügt ihnen nicht. Und so gehe ich wie ein Schwerverbrecher im Gänsemarsch, ein Soldat mit Schlagstock vor mir, ein zweiter mit einem Karabiner im Anschlag hinter mir, die Küste entlang und über die Landstraße in das nächste Dorf hinein. Dort werde ich auf dem Wachposten dem diensthabenden Offizier vorgeführt, der den Film in der Kamera beschlagnahmt. Während er mich befragt, durchsucht einer der Soldaten vor meinen Augen den Rucksack. Zum Vorschein kommen neben Obst, Brot und Wasserflasche ein Notizbuch und der rote Bibliothek-Suhrkamp-Band von Friederike Mayröcker mit dem Titel Benachbarte Metalle, den Thomas Kling 1998 herausgegeben hatte. Die Situation hätte absurder nicht sein können. Da ich verdächtigt werde, ein ausländischer Agent oder Drogenkurier zu sein, beginnt der Soldat nun den Gedichtband Seite für Seite durchzublättern. Auf Nachfrage übersetze ich den Titel und erkläre, dass es sich um die Gedichte einer bedeutenden österreichischen Dichterin handle, was den Soldaten aber nicht beirrt. Er blättert ruhig weiter, in der Hoffnung einen Hinweis auf mich oder irgendwelche illegale Handlungen darin zu finden, und das, obwohl er natürlich kein Wort Deutsch versteht. Und er gibt nicht auf, geht ihn durch bis zur letzten Seite. 

Was wäre wohl geschehen, wenn er die Texte hätte lesen können? Wäre ich dann weniger verdächtig gewesen? Zu welcher Einschätzung wäre wohl das strenge Auge des Grenzwächters eines diktatorischen Staates gekommen? Hätten die wild montierten, sich ständig unterbrechenden und unvorhersehbare Volten schlagende Textgebilde nicht eher in ihm die Vermutung aufkommen lassen müssen, dass es sich hier um einen geheimnisvollen Code handle? Und wenn nicht, dann doch um eine höchst subversive Art des Denkens, die sich jeder staatlichen Kontrolle entzieht? Mayröcker hätte dieser Zwischenfall sicher amüsiert, führt er doch geradewegs ins Zentrum ihres Lebens und Werks. Denn Friederike Mayröcker mit ihrer Affinität zum Surrealismus hat auf radikale Weise von ihrer Freiheit Gebrauch gemacht, indem sie die avantgardistische Forderung nach der Aufhebung der Grenze zwischen Kunst und Leben konsequent für sich umgesetzt hat: Sie lebte, um zu schreiben und sie schrieb, um zu leben. Äußerlich sichtbar vollzog sich das in ihrer geringen Mobilität mit Wien als Lebensmittelpunkt, und ihren beiden Wohnstätten in der Wiener Zentagasse, wo die Schreibflächen auszuufern begannen, bis die Wohnungen von Büchern, Zetteln und Manuskripten überflossen. Diesem schreibzentrierten, mit mehr als achtzig Büchern höchst produktiven Leben, entsprang ein Textkorpus, das man als fortdauernde Verständigung über sich selbst und die Welt lesen kann, ein Mahlstrom an Worten und Sätzen aus Erinnerungen, Lektüren, Briefen, Gesprächen, Zeitungsschnipseln und der unerschöpflichen Phantasie der Autorin, wie ihn die Literatur bis dato nicht gesehen hat. Und so war es auch mehr als konsequent, dass Marcel Beyer in den 2003 veröffentlichten Gesammelten Gedichten auf Wunsch der Autorin alle Texte chronologisch in der Reihenfolge des Entstehens anordnete und die ursprüngliche Organisation der publizierten Bände auflöste.

Spätestens seit den achtziger Jahren wurde Mayröcker als singuläre Erscheinung in der deutschsprachigen Literatur wahrgenommen, deren innovative sprachlichen Experimente ganze Generationen von Dichter*innen bis heute beeinflusst haben. Wobei, paradoxes Detail, wohl die wenigsten Mayröckers Bücher, seien es lyrische Prosa oder Gedichte, von Anfang bis zum Ende in einem Stück gelesen haben werden. Mayröckers Texte mit ihrer surrealen Vermischung von Traum und Realität, den Cuts und jazzigen Beats der montierten Sätze und Passagen wirken eher wie bewusstseinserweiternde Drogen und werden darum am besten dosiert eingenommen. Es wird nicht wenige Autor*innen geben, die ihren Arbeitstag am Schreibtisch mit einer oder mehreren Seiten Mayröcker beginnen, um in den Flow zu kommen. Wobei einem Mayröckers schrankenloses Probieren und Experimentieren zeigt, was alles möglich ist und zwar auf dem Papier wie im Leben. 

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Nach dem Tod von Ernst Jandl, ihrem „Lebens- und Liebensfreund“ seit 1954, gelang es ihr, obwohl sie zuerst befürchtete, nie wieder schreiben zu können, die Trauer in Literatur zu verwandeln (Requiem für Ernst Jandl, 2001), um danach selbst im fortgeschrittensten Alter noch einmal in ihrer Trilogie (études, 2013; cahiers, 2014; fleurs, 2016) zu ungeahnten Höhen der Kreativität aufzusteigen. Noch in den letzten zehn Lebensjahren, also im Alter von 87 bis 96 veröffentlichte sie, die manische Schreiberin an der Hermes Baby, neun neue Bücher. Zuletzt 2020 als letztes da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete mit einem Titel, wie er nur Mayröckers Imagination entspringen konnte. Auch mit dieser Produktivität im höchsten Alter steht sie einzigartig in der Literaturlandschaft da. Ihr großer Wunsch, sich dem Tod schreibend zu entziehen, blieb allerdings unerfüllt. Das Augenlicht, durch das, wie sie selbst betonte, die Welt in sie einströmte, war fast erloschen und als sie vor einem halben Jahr ihre „Zettelhöhle“ verlassen musste, kam auch das Schreiben, ihr Einsatz gegen die Vergänglichkeit, zum Erliegen. Was bleibt, ist neben den Erinnerungen an eine einzigartige Persönlichkeit voller Kreativität und Lebenswillen ein überbordendes Werk, von dem sich noch Generationen von Leser*innen und Dichter*innen inspirieren lassen können.

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