Now Reading
Blaue Himbeeren

Blaue Himbeeren

Logo Besprechung

Nicole Streitler-Kastberger liest Katharina Ingrid Godlers Die Filmstadt am Rande der Kindheit


Die Kindheit ist ein reiches Reservoir für die Dichtung. Man braucht nur auf Prousts Madeleine-Erlebnis verweisen, um deutlich zu machen, dass Erinnerung oft über Geschmäcker und Gerüche verläuft. Die „aufsteigenden Erinnerungen“ (Heimito von Doderer) prägen die Dichtung über Kindheit. Auch Farben und haptische Objekte bevölkern das Arsenal an Kindheits-Bildern. So auch in Katharina Ingrid Godlers Gedichtband mit dem schönen Titel Die Filmstadt am Rande der Kindheit.

Mit diesem schreibt sich Katharina Ingrid Godler in einen Diskurs ein, der die Kindheit in lyrischer Form verarbeiten will, wobei sie allerdings vor allem mit Bildern der Natur beeindruckt. Die Autorin wurde 1991 in Wien geboren, wo sie auch aufgewachsen ist und Vergleichende Literaturwissenschaft studiert hat.

Cover © Limbus Verlag

Sie hat zu Ilse Aichinger, Thomas Bernhard, Karl Kraus und Robert Musil geforscht. Im Standard hatte sie eine Kolumne mit dem Titel Die Frau ohne Eigenschaften, was Musil-Liebhaber:innen freuen dürfte. Heute lebt sie als Autorin und Journalistin in Klagenfurt. Der vorliegende Gedichtband ist ihre erste selbstständige Publikation. Die Arbeit an dem vorliegenden Band wurde mit dem Christine-Lavant-Lyrik-Stipendium des Landes Kärnten gefördert.

Formale Vielfalt

Und das ist gut so. Denn die Gedichte Godlers schlagen einen durchaus eigenständigen Ton an. Der Gedichtband ist in drei Abschnitte unterteilt: „Die Frau mit der Bienenhaut“, „Die Filmstadt am Rande der Kindheit“ und „Der Bauch hat zu tun“. Diese drei Abschnitte unterscheiden sich nicht nur thematisch, sondern vor allem auch formal. Überwiegen im ersten Teil klassische Formen wie Terzinen, Vier- und Fünfzeiler, auch ein Sonett findet sich, so ist der mittlere Teil, der thematisch der spannendste ist, formal unabhängiger, während der dritte Teil durchgängig in Dreizeilern gehalten ist. Wobei man dazusagen muss, dass sich Godler an keinerlei Reimschemata hält, sodass die tradierten Formen nur noch lose anzitiert werden. Die Gedichte zeichnen sich überdies durch ein einfaches Vokabular aus. Selten greift Godler zu rhetorischen Mitteln wie Alliterationen oder Binnenreimen. Doch die Kombination von einzelnen Wörtern folgt öfters dem Assoziativen statt dem semantischen Gehalt. Häufig finden sich ungewöhnliche Komposita, in denen fremde Bildbereiche metaphorisch zusammengespannt werden. Gelegentlich setzt sie auch starke Bilder ein wie jenes von den „blauen Himbeeren“. Überhaupt spielt Farbe in den Gedichten Godlers eine wichtige Rolle. Sie evozieren synästhetische Wahrnehmungen.

Themenkreise

Thematisch sind neben der Kindheit im Mittelteil auch Jahreszeiten, Natur und Reisen wichtig. Ein sehr schönes Naturgedicht ist gleich das erste des Bandes mit dem Titel „Hahn und Birkenmilch“, in dem Bilder wie „Leintücher im Wind“ oder „Milch in der Birke“ und deren „pelzige Köpfchen“ aufhorchen lassen. Nur wer einmal in einem Garten gelebt hat, kann solche Naturbeobachtungen nachvollziehen, weiß, wie Pflanzen (und Tiere) die eigene Wahrnehmung schulen und für besondere Momente sorgen: „Atemzüge eines Sommertags“ heißt ein zentrales Kapitel in Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften und solche Atemzüge von Sommertagen, aber natürlich auch von Herbst- und Wintertagen finden sich zuhauf in Godlers Lyrikband. Ein Beispiel, das das Gesagte veranschaulichen soll, ist das Gedicht „Kalter Hund“:

Ein Seufzen der Tür
Nicht wie das Atmen
eines alten Herren

Ein Tönen wie der
Ruf eines Käuzchens
im Vormorgendlichen

Das Blumenmuster
anders als Flugzeug
und Vogelpaarschatten

Sie schlagen ab und
landen getrost an der
Schattenwand. Kugeln
wie ein Katzenmund
die Zottelhundträgheit

Das Ofenlodern
dann sanft wie ein Bach
mäanderndes Knistern

Sonnenaufmerksam
erst wenn sie in den
Häuserblockfenstern steht

Wenn der Blick ins Buch
erstarrt und mürb auf
Unerlässliches fällt

„Zottelhundträgheit“ und „sonnenaufmerksam“ sind solche Neologismen, Komposita des Unerhörten, Ungehörten, die Dichtung zu einem sprachlichen Erlebnis werden lassen. Ein Schlüsseltext ist für mich das Gedicht „Die Frau mit der Bienenhaut“, das auch dem ersten Teil des Bandes den Titel verleiht:

See Also

Nach dem Familienbesuch
sitzt sie in seinem Garten
und wartet, dass Ruhe einkehrt

Sie sehnt sich nach der eigenen
Sinnlichkeit und nach dem Wohl
auf ihrer zarten Bienenhaut

Innerlich zerreißen sie die
Bilder der Kindheit und die
Gespräche der letzten Tage

Sie arbeiten nach, erschöpfen
Doch sie weiß, dass bald wieder
der Zauber in ihr wohnen wird

Sie wird wieder sehen können
wie sich das wilde Weinblatt
in der Herbstsonne einigelt

Sie wird wieder hören können
wie schnell sich das Windrad dreht
sobald die Vögel fortreisen

Sie wird wieder riechen können
wie sich das Bratenfett mit
dem verbrannten Buchenholz mischt

Wieder sehen, hören und riechen können, das ist für den Lyriker und die Lyrikerin essenziell. Sehr schön paart Godler in dem Gedicht die existenzielle Einsamkeit des Dichters mit der Ablenkung, die größere Gesellschaften, vor allem Familienbesuche, mit sich bringen. Nur wer der Familie und der Gesellschaft entkommt (auch wenn es kein Außerhalb der Gesellschaft gibt, wie Bachmann glaubhaft vermittelt hat), kann empfänglich und „apperzipierend“ (Doderer) werden und damit schreibend die Welt erkunden.

Die Kindheit: ein Erinnerungsreservoir

In dem Gedicht „Klangtapete einer Kindheit“ erkundet Godler die klanglichen Aspekte des Kindseins. Da sind abwechselnd „Kauz“ und „Täubchen“ zu vernehmen, „Das Rotkehlchen / vom Nachbarhof / wassermäandert“, jemand streicht eine Wand. Kindheit heißt Fülle der Wahrnehmungen, denen Godler in ihren Texten nachspürt: „Brettspiele und / Rummy. Platz neben / der Großmutter / mit den Ohrenclips“. Wer kennt sie nicht, diese Nachmittage bei den Großeltern, an denen die Zeit im besten Sinne mit Spielen vertrieben wurde. Sehr schön auch „Das Kastanienlicht in den Flechtmähnen“, in dem das vor allem bei Mädchen beliebte Reiten beleuchtet wird. Oder das titelgebende Gedicht „Die Filmstadt am Rande der Kindheit“:

Frischer Duft vom Erdenlaub
Gegrautes Himmelmeer
Das Vogelpaar tschilpt
in den Schlössern

Und das Pferd vom Reitstall Knoll
im grüngedüngten Feld
Buchweizenblüten
und Kleeerde

Erinnern an die Filmstadt
im Kurpark Oberlaa
Maronischalen
in der Tasche

Jedes Wort steht hier an der richtigen Stelle. Bilder wie das „gegraute Himmelmeer“ oder die „Maronischalen / in der Tasche“ bannen den Herbst in wenigen Worten. Man muss sich Zeit nehmen für die Texte von Godler und genau hinschauen, dann wird man überrascht von so mancher Schönheit. An einer Stelle (im Gedicht „Schulbeginn mit schwerroten Hollerdolden“) klingt Hölderlins „Hälfte des Lebens“ an. Mit solchen intertextuellen Verweisen spart Godler. Doch sie sind da und verleihen den Texten eine zusätzliche Ebene. Ein Gedichtband, der nicht mit Sprache prunkt oder sich in große Abstraktionen verliert, doch einer, der die Worte behutsam setzt und Natur und Menschsein, vor allem Kindsein, in einer unprätentiösen Sprache erkundet.


Katharina Ingrid Godler: Die Filmstadt am Rande der Kindheit. Gedichte. Limbus, Innsbruck–Wien, 2023. 96 Seiten. Euro 15,–

Scroll To Top