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„meine Neugierde ist zweistockhoch“

„meine Neugierde ist zweistockhoch“

Logo Besprechung I

Monika Vasik liest Flügelhornblasen gegen den Wind von Alfred Gesswein


Der Literaturkreis Podium ist eine Vereinigung von Schriftsteller*innen, der auch etliche Autor*innen der Poesiegalerie angehören. Als ich vor Jahren Mitglied des Vereins wurde, stolperte ich erstmals über den Namen Alfred Gesswein. Das Podium hatte 1993 zum 10. Todestag des Dichters den Gesswein-Literaturpreis gestiftet, der bis 2009 alle zwei Jahre vergeben, 2012 dann umbenannt wurde und seither den Namen seines Freundes und literarischen Weggefährten Alois Vogel trägt. 2005 erschien posthum zudem der Podium-Porträtband Nr. 22 mit ausgewählten Gedichten Gessweins, für den Vogel (1922-2005) das Vorwort beisteuerte. Damit konnte wenigstens ein kleiner Einblick in dessen lyrisches Schaffen gewonnen werden, denn wohl gab es das eine oder andere Buch in öffentlichen Bibliotheken, doch der Großteil seines Werks war damals vergriffen.

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mein gedicht verändert die welt
wie das lachen der möwe
die welt verändert

Alfred Gesswein wurde 1911 in Wieselburg-Ungarisch Altenburg geboren, „am Rande der Puszta bei Magyaróvár“, wie es in seinem Gedicht „Biographisches“ heißt, wuchs in Wien auf und starb 1983 ebenda. Er arbeitete im Brotberuf als Gebrauchsgrafiker, schuf als Schriftsteller Gedichte, Prosawerke und Hörspiele, war Maler und überdies auch noch ein verlässlicher Akteur des literarischen Betriebs in Österreich, oft gemeinsam mit Alois Vogel. Motor mag ihm seine „Neugierde“ gewesen sein, sein Interesse für das Schreiben der anderen. Gesswein und Vogel gaben zwischen 1965 und 1972 ein Jahrbuch für Literatur und Kunst mit dem Titel konfigurationen heraus und gründeten im Jahr 1970 gemeinsam mit Wilhelm Szabo (1901-86) und Ilse Tielsch (*1929) den schon erwähnten Literaturkreis Podium, für den Gesswein auch das Logo schuf. Im Jahr darauf entstand die Literaturzeitschrift Podium, die heuer ihr 50. Jubiläum begeht. Gesswein fungierte jahrelang als verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift und verantwortete auch deren graphische Gestaltung. Zudem war er Mitherausgeber der Buchreihe Lyrik aus Österreich, die nach seinem Tod von Alois Vogel und später von Manfred Chobot betreut wurde, ehe diese 2004 eingestellt wurde.

Früh schon
habe ich mich darin geübt
die Dinge anzuhören
wenn sie ihre Geschichten erzählen:
der Schatten unter der Brücke
das Taschentuch in der Pfütze
der verlassene Biergarten
das traurige Gesicht des Obsthändlers
Ich versuchte dahinter zu kommen
hinter die Pointe der Geschichten
befreite sie von den Wortschalen
bis der Kern bloßlag
So kam ich zum Gedicht

Gessweins Nachlass, der u.a. zahlreiche Typoskripte enthält, wurde 2016 vom NÖ Literaturarchiv / Landessammlungen Niederösterreich erworben, für dessen Bestände der Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Helmut Neundlinger verantwortlich ist. Neundlinger gelang es, Christian Teissl als Herausgeber der gesammelten Gedichte Gessweins zu gewinnen, ein Glücksgriff, denn Teissl betätigte sich bereits öfter als „literarischer Archäologe“ und widmete sich der Herausgabe von Werken vergessener Schriftsteller*innen. Er ist Germanist, Schriftsteller und ebenfalls Mitglied im Literaturkreis Podium, war u.a. bereits Mitherausgeber einer umfangreichen Dokumentation aus Anlass des 40-jährigen Podium-Bestehens, die im März 2011 publiziert wurde. Nun widmete er sich dem Schaffen des Gründervaters Alfred Gesswein und vertiefte sich akribisch in dessen lyrisches Werk. Teissl schrieb für diese erste Gesamtausgabe der Dichtungen Gessweins zudem ein lesenswertes Nachwort, in dem er Leben und Werk in Verbindung setzt, Gedichten, die in mehreren Fassungen vorlagen, nachspürt, sowie persönlichen Verbindungen des Dichters zu Freunden, Mentoren und Kollegen aufzeigt.

Im Nachlass fanden sich auch rund 130 bildnerische Werke, die in die Kunstsammlung des Landes Niederösterreich aufgenommen wurden, darunter Arbeiten aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, Familienporträts, Landschaftsaquarelle und Stillleben. Eine Auswahl kleinformatiger farbiger Gouachen wurde für die vorliegende Gesamtausgabe ausgewählt, darunter auch das Coverbild, eine eindrückliche Gouache ohne Titel, die undatiert ist. Die Wissenschaftlerin Jutta M. Pichler verortet in ihrem Kommentar das bildnerische Werk im Kontext von Gessweins künstlerischem Schaffen, das in einer Zeit, als es noch kaum Stipendien, Preise und andere öffentliche Förderungen gab, jahrzehntelang nur neben dem Brotberuf und seinem kollegialen Engagement entstehen konnte und dessen Reichtum Nachgeborene umso mehr erstaunt. Gesswein selbst hat den Stellenwert der Malerei so beschrieben: „Das Hauptanliegen meines Interesses galt […] immer nur der Dichtung. Es fiel mir nicht schwer, mich zu entscheiden.“

Dass Gesswein einem Brotberuf nachging, war einer der Gründe, warum er als Dichter erst spät die literarische Bühne betrat. Wohl hat er Gedichte verstreut publiziert, doch sein Buchdebüt „Leg in den Wind dein Herz“ erschien erst 1960 im Wiener Bergland-Verlag, da war Gesswein fast 50 Jahre alt. Neun weitere Gedichtbände sollten zu seinen Lebzeiten folgen, zuletzt „Kartenhäuser“ 1981 im Badener Grasl-Verlag. Dass er aber schon früh zu dichten begann, zeigt Christian Teissl auf. Im Nachlass befand sich ein knapp 70 Seiten starkes Konvolut von Typoskripten mit dem Titel Gedichte von 1927-32. Es sind erste lyrische Versuche eines Jugendlichen, der „noch in ausgefahrenen Sprachgeleisen unterwegs ist“ und viel Angelesenes einarbeitet, der aber, so Teissl, „bereits die für sein späteres poetisches Werk charakteristische Neigung zum Peripheren, zu den abseitigen Pfaden, den schmalen Rändern“ zeigt.

Gedichte markieren meinen Weg
wie die Steine den Weg des Däumlings

Flügelhornblasen gegen den Wind ist chronologisch geordnet, beginnt mit frühen Gedichten, durchmisst die Lyrikbände Gessweins und nimmt verstreute und nachgelassene Texte auf. Das erlaubt ein Nachverfolgen der künstlerischen Entwicklung, insbesondere der thematischen Bezüge. So gibt es anfangs noch viele religiöse Inhalte, die sich allmählich verlieren. Von großer Bedeutung waren für ihn seine Erfahrungen als Soldat im Krieg, die in Gedichte flossen und die er in einigen, auch späteren Bänden aufnahm. Sehr viele Texte greifen Themen aus der Natur auf, widmen sich Monaten und Jahreszeiten, Urlaubseindrücken und Ausflugsimpressionen.

Gedichte
sind für mich
was für den Piloten das Steuer ist
was für den Spieler die Karten sind
zu Poker und Skat
die Georginen für den Gärtner
die er vom Unkraut befreit

Das wichtigste Sinnesorgan für Gesswein ist das Auge. Es sind Gedichte eines Städters, der die Natur liebt, der schaut wie ein Maler und Geschautes in Worte verwandelt. Weitere Themen sind das Leben in der Stadt, die Flüchtigkeit des Daseins, sind das Altern, Sterblichkeit und der Tod.

See Also

die augen
ein wenig verdunkelt
von druckerschwärze
verändern sie die welt

Nur vier Gedichte in diesem Band sind gewidmet: zwei seiner Frau, eines dem Schriftsteller Gerhard Fritsch und eines H.C. Artmann. Und wie Artmann verfasste auch Gesswein Gedichte im Wiener Dialekt. Im Anhang des Buchs ist seine Reflexion über das Schreiben von Mundartgedichten abgedruckt, in der er Autoren kritisch beurteilt, die sich des Dialekts als „literarische Masche“ bedienen.

Dabei vergessen sie, daß das Dialekt-Gedicht denselben Gesetzen unterworfen
ist wie das Gedicht in der Hochsprache. Denn auch hier prägt ja der Inhalt 
seine Form. Und schon ein falscher Ton darin ergibt eine schreckliche 
Dissonanz, mehr noch das falsch angewandte Wort. Ich wage sogar die 
Behauptung, daß das Mundartgedicht weitaus diffiziler ist als das Gedicht
in der Hochsprache. ... Das Dialektgedicht muß im Autor gewachsen sein 
wie ein Baum, sonst trägt er keine Früchte.

Zwei Gedichtsammlungen im Wiener Dialekt hat Gesswein veröffentlicht: 1975 den Band rama dama rama woima rama miasma und 1976 das Buch augfeude schtod. Es sind Texte mit gelegentlich schwarzem Humor, die man außerhalb Wiens vielleicht schwer verstehen wird, bei denen eine (typische) Wienerin wie ich aber denselben Lesegenuss, dieselbe Faszination verspürt wie bei einem Werk des ungleich bekannteren H.C. Artmann. Wie etwa bei dieser „gleichung met ana unbekauntn“:

a beem+ a growot
x an ungan
(gebrochn duach)
an mameladinga
= (gleich)
a wiina

Alfred Gesswein: Flügelhornblasen gegen den Wind. Gesammelte Gedichte. Hrsg. Christian Teissl. Literaturedition Niederösterreich, St. Pölten 2021. 850 Seiten. Euro 28,-

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