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Trennung und Sehnsucht

Trennung und Sehnsucht

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Daniela Chana liest den Briefwechsel „Ich schreib für Dich und jedes Wort aus Liebe“ von Helga und Ilse Aichinger


Rund um Ilse Aichingers 100. Geburtstag werden in diesem November gleich mehrere Publikationen vorgelegt, die neue Aspekte im Leben und Werk der Dichterin beleuchten. Besonders berührend ist der erstmals veröffentlichte Briefwechsel zwischen Aichinger und ihrer Zwillingsschwester Helga Michie aus den Jahren des Zweiten Weltkriegs, der nun in der Edition Korrespondenzen unter dem Titel „Ich schreib für Dich und jedes Wort aus Liebe“ erschien. Die hoch emotionalen Briefe der beiden jugendlichen Schwestern machen zweierlei spürbar: zum einen die unendliche Grausamkeit eines Regimes, das eine Familie jahrelang auseinanderreißt, und zum anderen das Heranreifen einer jungen Frau zu einer der bedeutendsten österreichischen Schriftstellerinnen der Nachkriegszeit.

© Copyright Edition Korrespondenzen

Zum Zeitpunkt des Anschlusses 1938 sind die Aichingerzwillinge gerade 16 Jahre alt. Obwohl ihre Mutter Berta einen Katholiken geheiratet hatte und zum Christentum konvertiert war, gilt die Familie ab sofort wieder als jüdisch, Ilse und Helga Aichinger werden als sogenannte „Mischlinge ersten Grades“ eingestuft. Der Mutter wird es verboten, ihren Beruf als Ärztin weiter auszuüben, was ein Leben in großer Armut zur Folge haben wird. 1939 wird die 17jährige Helga mit einem Kindertransport von Wien ins britische Exil gebracht, wo sie in wechselnden Unterkünften, aber immerhin in der Nähe einer Tante, Klara Kremer, leben wird. Ilse bleibt mit ihrer Mutter in Wien zurück. Insgesamt wird es acht Jahre dauern, bis die beiden Zwillingsschwestern einander zum ersten Mal wiedersehen. 

Aus diesen langen Jahren der Trennung stammen die Briefe, welche Nikola Herweg, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Literaturarchiv Marbach, in über zehn Jahre langer Arbeit gemeinsam mit ihrem Team gesichtet und für diesen Band zusammengestellt hat. Eine sehr gute editorische Entscheidung war, die Briefe nur behutsam zu lektorieren und vereinzelte eigenwillige Schreibweisen bestimmter Wörter beizubehalten. So erscheint zum Beispiel Ilse Aichingers Jugendlichkeit lebendig vor Augen, wenn sie etwa das (sehr häufig gebrauchte) Wort „Schokolade“ kontinuierlich mit „ck“ schreibt, also: „Schockolade“. Erhellend für die zukünftige Aichinger-Lektüre ist zudem das Nachwort, in dem Herweg Motive herausarbeitet, die in den Briefen bereits auftauchen und später Bestandteil der literarischen Arbeiten Ilse Aichingers sein werden. Weiters stellt sie Querverbindungen zum künstlerischen Werk Helga Michies her, das bis dato weniger bekannt ist. 

Trotz der Tragik der Ereignisse, die deutlich spürbar wird, regen die lebendigen Schilderungen der 17jährigen Helga aus dem Londoner Exil anfangs einige Male zum Schmunzeln an, etwa wenn die Jugendliche beharrlich darauf hinweist, dass keine Sehenswürdigkeit in England nur annähernd so schön sei wie der Stephansdom in Wien. Jedoch erhält selbst diese scheinbare Heiterkeit einen bitteren Beigeschmack, da sie vermuten lässt, dass Helga in ihren Briefen nach Hause manches beschönigt oder Probleme heruntergespielt haben mag, um die Daheimgebliebenen nicht zu beunruhigen.

Ab 1940 kommt es zur Einstellung des Postverkehrs, sodass nur noch wenige Nachrichten ankommen. Durch Formblätter des Internationalen Roten Kreuzes ist es in jener Zeit möglich, einmal in drei Monaten telegrammartige Botschaften zu maximal 25 Worten auszutauschen. Ausgerechnet von Helgas Heirat mit Walter Singer und der Geburt ihres ersten Kindes erfahren die in Wien Gebliebenen daher nur sehr lückenhaft und zeitverzögert. Als Berta Aichinger mit monatelanger Verspätung die Nachricht von der Schwangerschaft ihrer 18jährigen Tochter erhält, erwidert sie:

„Vollständig überrascht, sehr besorgt, wer ist Walter Singer?“ (S. 121) 

Erst ein knappes Jahr später erreicht sie die Antwort, dass der Ehegatte im selben Alter sei wie Helga und ein „BRAVER VERNUENFTIGER JUNGE“. (S. 124) Die Lücken füllt der Band mit Auszügen aus Ilse Aichingers literarischen Tagebüchern sowie fiktiven Briefen an ihre Schwester, in denen sie ihrer Sehnsucht und ihrem Kummer mehr Raum gibt als in den tatsächlich abgesandten. Hier gesteht sie:

„Als wir auseinandergingen, waren wir noch nicht erwacht, nun aber bist 
Du eine Frau geworden und ich ein leidender Mensch.“ (S. 146)

Einblicke in ihr beginnendes Selbstverständnis als Dichterin geben die Briefe ab 1946, als Ilse Aichinger an ihrem Roman „Die größere Hoffnung“ arbeitet und erste Erfolge als Schriftstellerin genießt. Wiederholt klagt sie über die Mühen des Schreibens, vielleicht auch um mögliche Neidgefühle Helgas abzuwehren, deren eigene kreative Ambitionen zu diesem Zeitpunkt noch keinen Ausdruck gefunden haben. Im Vergleich mit der Zwillingsschwester, die sich im Ausland selbständig durchgeschlagen, geheiratet und ein Kind bekommen hat, fühlt Ilse sich als die weniger Erwachsene und weniger Erfahrene:

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„[I]ch bin manchmal noch so kindisch, weißt Du, das Tiefe und Heiße, 
das die Leute Talent nennen und aus dem ich dichte, das muß sich 
äußerlich irgendwie abreagieren, ich hab noch ziemlich viel 
Lausbubenallüren [...]“ (S. 194)

Eindrücklich werden zudem die Veränderungen Wiens beschrieben. Während Helga aus dem Exil die Stadt ihrer Kindheit als Sehnsuchtsort idealisiert, fühlt sich Ilse Aichinger dort immer weniger wohl:

„Denn Wien ist schauerlich. / Wir sind hier heimatloser als Ihr drüben, 
glaube ich“ (S. 204). 

Die in Wien Gebliebenen leiden unter der Armut der Nachkriegszeit und bitten immer wieder, dass die Verwandten ihnen aus London ein Päckchen Süßstoff oder Kaffee schicken mögen, monatelang warten sie auf ein Päckchen Zimt oder Mehl. Über die Jahre hinweg drücken Ilse und Berta Aichinger die Sehnsucht aus, ebenfalls nach London ausreisen zu können. Zahlreiche bürokratische Hürden stehen diesem Wunsch jedoch im Weg, stets aufs Neue müssen sie Anträge stellen und werden abgewiesen. Als Ilse Aichinger ihre Nichte Ruth endlich persönlich kennen lernen darf, ist diese bereits fünf Jahre alt.

„Ich schreib für Dich und jedes Wort aus Liebe“ wäre als Schullektüre dringend zu empfehlen. Besser als bloße Fakten aus Geschichtsbüchern – und zudem leicht zugänglich durch die jugendliche Sprache – vermögen es die Briefe, ein Gefühl dafür zu vermitteln, was die Wirren eines Krieges mit den Menschen und deren Familien anrichten können. Gemeinsam mit weiteren Publikationen wie den ebenfalls in der Edition Korrespondenzen erschienenen Radio-Essays Ilse Aichingers, „Die Frühvollendeten“, wird das bisher erhältliche Werk der Dichterin somit zum Jubiläum um einige neue Mosaiksteine ergänzt.

Helga und Ilse Aichinger: „Ich schreib für Dich und jedes Wort aus Liebe“. Briefwechsel zwischen Wien und London: 1939-1947. Edition Korrespondenzen, Wien 2021. 380 Seiten. Euro 28,-

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