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Scherenschnitt und Bilderlesung

Scherenschnitt und Bilderlesung

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Johannes Tröndle liest DIE SÜSZE EINER FRUCHT von Martin Kubaczek


Mit kleinen Nagelscheren und einem speziellen, einseitig schwarz gefärbten Papier arbeitet die niederösterreichische Ärztin und Künstlerin Rosemarie Hebenstreit, die bereits in der Scherenschnitt-Werkstatt ihrer Mutter aufgewachsen war und sich seit rund zwanzig Jahren mit Pflanzenmotiven befasst – nachzusehen auf ihrer Homepage und vor allem in einem jüngst, gemeinsam mit Martin Kubaczek publizierten Buch, das den feinen, detailreich ausgestalteten Papierarbeiten Gedichte oder, wie es im Buch eigentlich heißt, Texte und Bilderlesungen zur Seite stellt.

© Verlag Bibliothek der Provinz

Rund 80 Pflanzen, im Inhaltsverzeichnis mit ihrem deutschen und botanischen Namen angeführt, umfasst das Kompendium. Die Doppelporträts der Pflanzenikonen – vom Stechapfel über Brennnessel und Mondviole bis zum Liegenden Weißklee – folgen dabei keiner erkennbaren Reihenfolge. Weder sind die Pflanzen systematisiert (undogmatisch mischen sich zu den krautigen Pflanzen auch Bucheckern oder Kirschblüten), noch finden sich Kapitel oder Zwischentitel. Überhaupt sind Überschriften ausgespart – auch die Texte selbst haben keine. Eine Zusammenstellung, die Anfangs- und Schlussgedicht nicht ganz dem Zufall überlässt, darüber hinaus aber sehr offen konzipiert scheint; dazu einlädt, das Buch an beliebiger Stelle aufzuschlagen, sich seinen eigenen Lektürepfad durch das Pflanzendickicht zu bahnen.

Ich frage mich, was ich sehe, folge dem Bild, lese

So lautet die erste Verszeile eines Gedichts, das auch poetologisch verstanden werden kann und in Fragen von „Wachstum“ und „Gelingen“ Gedicht und Pflanze, die lyrische mit der biologisch-organischen Ebene analog setzt:

Wird es? Sprießt es? Dreht es zum Licht, gedeiht
es, oder: Nein, das wird nichts … etwas vergeht
oder es ist ein Konglomerat, das da entsteht
ein Puzzle, Mosaik, etwas, das sich fügt, aneinander
legt und zusammensetzt aus einzelnen Elementen

Tatsächlich speisen sich Kubaczeks Texte aus verschiedensten Quellen (dazu später), und sie folgen – wiewohl rein äußerlich von ähnlicher Gestalt, je etwa 10 bis 20 Verszeilen – verschiedenen Wegen zum Licht des Gedichts. Anschauung und Reflexion (Ich frage mich, was ich sehe) bilden den Ausgangspunkt für kleine sprachliche Wanderungen, die in ganz unterschiedliche Regionen führen.

Scherenschnitt „Eiförmiger Walch“ von Rosemarie Hebenstreit © Verlag Bibliothek der Provinz

Der gerade zitierte Text, es ist jener zum Eiförmigen Walch (einem Süßgras), ist hierfür ein gutes Beispiel, weil es ihn respektive die Pflanze auch noch in einer zweiten (und etwas weiter hinten sogar dritten) Ausführung gibt. Streckt der Walch in der ersten Scherenschnitt-Variante die Ähren der Sonne entgegen, hängt der eiförmig verdickte Blütenstand im zweiten Bild schlaff nach unten. Und anstelle der poetologischen Reflexion schüttet das Gedicht ein Füllhorn an visuellen Assoziationen über die Lesenden aus:

Kein Mopp, keine ausgewrungene Wolle, in Fetzen
keine Wasserfäden zieht einer, rag time, hinter sich her
kein Hexenbesern, zersplitterter Torpedo, Angriff von Gelsen
keine aufgezwirbelten, aufgedröselten Kabel-Enden
(…)

Ein ähnliches Paar bilden die beiden Wirbeldost-Varianten. Hier sind die Scherenschnitte ident, einmal als Positiv-, einmal als Negativform. Und während der eine Text mit visuellen Vergleichen arbeitet (und sich dabei mittels Flipper-Automaten und Hochschaubahnen an die Hamburger Reeperbahn katapultiert), bleibt der andere dicht beschreibend an der Pflanze dran. Und nicht die Silhouette gibt hier den Anstoß, sondern der Pflanzenname und das Begriffsfeld, das ihn umgibt:

Lese: Clinopodium, Gattung Neptotidae
knackig und kantig der wässrige Stiel
scheinquirlig, bewimpert, Lippenblüten
Windstreuer, klebhaftet an Schmetterlingen

Man meint dem Dichter regelrecht über die Schulter blicken zu können, wie er Wirbeldost, Mondviole oder Himmelschlüssel im Lexikon nachschlägt und in der botanischen Fachsprache nach poetischen Fundstücken gräbt. Zwanglos aneinandergereiht, als Addition kleiner Sinneinheiten von drei bis vier Worten, sind es dabei vor allem die sprach-musikalischen Qualitäten, die das Konglomerat zusammenhalten. Denn ohne allzu offensichtlich von lyrischen Stilmitteln Gebrauch zu machen, sind die Gedichte doch immer mit dem Ohr für Rhythmus und Klang geschrieben. Reime etwa tauchen häufig auf – aber sie wirken nie gewollt, sondern fast zufällig, wie „mitgenommen“, vom Wegrand aufgelesen.

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Scherenschnitt „Wirbeldost im Spätherbst“ von Rosemarie Hebenstreit
© Verlag Bibliothek der Provinz

Dies, apropos, ein weiteres Feld, das in den Texten beackert wird: die natürliche Umgebung der Pflanzen. Ein gelichteter Wald, eine schottrige Senke, Wiesenwege, Wildgruben, oder die sandige Böschung am Wegrand – Orte, an die in den Gedichten teils Erlebnisse anknüpfen, sodass aus der Beschreibung eine Erzählung wird. Die Gedichte öffnen sich dann dem Subjektiven, schwenken von hermetischer Naturbeschreibung hin zu jenen, die sie durchstreifen – oder in ihr ruhen. Etwa in der ersten Strophe des Rosmarin:

Ich lag auf der Kuppe der Insel
unter sprühenden Fenchelstauden
in Minze und Rosmarin, Eidechsen
raschelten im Laub und verschwanden
in Ritzen zwischen den Steinen, verwilderte
Olivenhaine im Mittagsglühen

Ganz am Ende des Bandes findet sich ein kleiner Anmerkungsapparat, in dem – ein weiterer Assoziationsraum – die Japan-Bezüge des Autors, der mehrere Jahre dort gelebt hat, erläutert bzw. Spuren zu anderen Autoren gelegt werden: zu Franz Kafka, Walter Benjamin, Paul Celan, Ezra Pound, oder auch zu Kubaczeks Dichterkollegen Bodo Hell, den man sich in manchem Wander-Gedicht gut als (im wahrsten Sinne des Wortes) Weggefährten vorstellen kann.

Und nicht zuletzt schlagen die Schlussbemerkungen auch die Brücke zur Musik, zu Bach und Charles Ives – wie auch in den Gedichten selbst den visuellen immer wieder auch musikalische Assoziationen zur Seite stehen, Tonbänder und Notenlinien auftauchen, die gefiederten Blättchen der Vogelwicke an flirrende Klavier-Tastaturen erinnern. Oder den Bambusröhren zugehört und wie in einem der Zitate hier angeklungen – kurzerhand ein rag time angestimmt wird.

Martin Kubaczek: DIE SÜSZE EINER FRUCHT. Pflanzenikonen. (gem. m. Rosemarie Hebenstreit). Verlag Bibliothek der Provinz, Weitra 2021. 160 Seiten. Euro 18,-

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