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Der fünften Poesiegalerie dritter Tag

Der fünften Poesiegalerie dritter Tag

von Stefan Schmitzer

Achtzehn Uhr. Das Saallicht geht aus, Teile des Publikums rumoren noch vor der Tür, im Rauchereck. Bis 18:05 Uhr hat sich das dann.

Udo Kawasser kündigt den längsten Leseabend der heurigen Poesiegalerie an und übergibt an Rhea Krčmářová, die wiederum Maë Schwinghammer einmoderiert, derzeit weithin herumgereichte und bepreiste Student*in an der Sprachkunst der Angewandten.


Der Erstling, „Covids Metamorphosen“ (Klever), liegt am Büchertisch. Der journalhafte Text – was Schwinghammer aus dem Buch vorträgt, sind Venedig-Szenen aus der Covid-Zeit – führt u. a. Reflexionen über das Verfassen von Texten vor, als Akzente in ausführlicher, persönlicher dérive-Prosa. Reden über Venedig als Reden über Literatur; ich registriere, dass es im gedruckten Text zahlreiche Verweise auf das Lehrgedicht von Ovid gibt, und frage mich auch, ob „Schwinghammer“ ein gut ausgedachter sprechender Künstlernamen ist.

Maë Schwinghammer zu Beginn der Lesung © Poesiegalerie

Maë Schwinghammer



Martina Jakobson

Martina Jakobson, Romanistin, Berliner Übersetzerin aus dem Russischen, Belarussischen und Ukrainischen mit Wohnsitz Wien, liest als zweite aus „Hier biegen wir ab“ (Edition Lex List).

Die Sprache ist mein Umhang

sagt sie in einem Text, der das Verhältnis Sprache-Subjekt-Emotion in die Bilder eines archaischen Märchens kleidet. Ist die Sprache das Fell jenes im Text ge-, dann er-jagten Hasen? Oder ist die Sprecherin der lebendige, Haken schlagende? Oder schließen die beiden Lesarten sich gar nicht aus? – Biographiebedingt ist Jakobson jedenfalls in einer guten Position, auch Zeitgeschichtliches – die Zivilgesellschaft in Belarus, den Krieg in Ukraine – in den Blick dieser so gearteten Texte zu bekommen.

Martina Jakobson
© Poesiegalerie

Doppelt vertreten ist Jörg Zemmler – einmal, in der transmedialen Poesiegalerie, mit bildender Kunst, zum anderen als Autor des Limbus-Bandes „Wir wussten nicht warum Nur Zweifel gab es keine“ – wir hören seine Gedichte als Miniaturen, die uns die Natur dieses „Wir“ des Titels als Frage aufgeben: Ist das die räudige Kleinstadtgemeinschaft? Der Rest einer Lehrbubenclique an der Kante zum Erwachsenwerden? … Ah, es ist doch ein Liebespaar-Wir: Szenen einer Verliebtheit im Dorf; fast, aber nicht ganz surreal. Zemmler liest diese Gedichte, Plural, wie eine einzige Erzählung:

Jörg Zemmler
© Poesiegalerie

Jörg Zemmler
Ich nannte Dich 


Neujahrswunsch
Und Scharlatan 
Seepferdchen 
Fiebermesser
Hologramm
Und Aquarell 

Knapp nach 19:00 performt Angelika Stallhofer, eingebettet in Screening von Auszügen eines märchenhaften Stop-Motion-Videos von Andrea Zámbori, aus ihrem Band „Stille Kometen“ (Edition ch), einer interpunktionslosen Sammlung von Miniaturen. Die beiden Elemente fügen sich – das scheint dieses Jahr, oder an diesem Abend, der Trend zu sein – zu einer Erzählung aus einem privaten Raum zusammen:


Wer liebt schon die stillen Kometen?

Mechthild Podzeit-Lütjen

Eben erschienen ist „darhöhung. elmsfeuer. wir zwischen du und ich“ von Mechthild Podzeit-Lütjen. Ihre Lesung beginnt mit einer Erklärung des rätselhaften Worts „darhöhung“ im Titel aus dem Hebräischen, und ihr Vortrag mit demjenigen Gestus von Naturschilderung, der Zitate archaisierende Wendungen als zweckmäßiges Mittel zur Nachbildung genau bestimmter – nicht aller! – Sachverhalte einsetzt. Zugleich aber:


Auf jeder Flocke sitzt dieses Covid.


Covid, gesprochen mit fast-langem I, wie eine barocke Landplage in der Winterlandschaft. Auch:


Was hat dieses Virus mit Gott zu tun?

Mechthild Podzeit-Lütjen
© Poesiegalerie

Mit Cvetka Lipuš liest bei der diesjährigen Poesiegalerie eine weitere Autorin, deren Arbeit zwischen der deutschen und der slowenischen Sprache situiert ist. „Komm, schnüren wir die Knochen“ (Otto Müller) ist eine neuere Übersetzung aus einem 2010 auf slowenisch erschienenen Buch. In dem Moment, in dem ich es schaffe, genauer hinzuhören, schildert der Text einen Spaziergang durch ausgerechnet Todtnauberg, samt distanziert-spöttischer Anrede an jenen unvermeidlichen Herrn Martin nebst ausgewählter Alpenflora. Lipuš liest diesen Text in beiden Sprachen; geht vom Slowenischen ansatzlos zum nächsten deutschsprachigen Gedicht über, in dem es um Alter, um den Verfall von Körpern geht (ca. „Memento Mori im Fitnessstudio“). Neben Texten aus dem Buch liest die Autorin auch neue Texte. Beachtung verdient unter diesen derjenige, in dem Lipuš paradox über „ihre Gattung“ spricht, so zwischen Poetologischem – Gattung Lyrik – und Kritik an die Adresse der Gattung Mensch oszillierend.

Cvetka Lipuš
© Poesiegalerie

Cvetka Lipuš
Susanna Bihari

Die Schauspielerin und Intendantin Susanna Bihari liest aus ihrem Debütband „Dreimal Liebe“ (erschienen bei Keiper, aber anscheinend nicht in der Lyrik-Reihe, sondern als eigenständiges „Einzel-Buch“). Nach Auskunft der Autorin ist das Buch gegliedert in drei Geschichten, von denen sie die zweite vorträgt:


Was vibriert zwischen unseren fünfzig Quadratmetern Haut? (…) Ich finde mich in Dir drin. Du auch. Wie schön. (…)


Lyrik ist hier als Form eines Liebes-, Eifersuchts-, Leidenschaftsmonologs. Metaphern, nicht-alltägliche Sprache, alles das erscheint im Text stets erst als Artefakt, wenn die Protagonistin die Kontrolle verliert.

Susanna Bihari
© Poesiegalerie


Um knapp halb neun gibt es eine performative Lesung von Melamar (auf Einladung der Edition ch) mit Musik des Bassisten Herbert Lacina und eingebettet in eine Filmprojektion („Bäume aus Licht“). Der gelesene Text beginnt als Story eines tendenziell verwilderten Kindes zwischen Wald und Schule, und kippt, sobald die Musik einsetzt (Obertonreihen hoch und runter, mal anschmiegsam, mal bedrohlich) erst ins tastend Visionäre, dann selbstbewusst Halluzinatorische –


die Bäume aus Plastik träumen von Wurzeln


– und wir können fragen: Hören wir in diesen Baum-Traum-Schnipseln, als Erzähltem, den inneren Monolog jenes Kindes auf dem Schulweg; oder war jener erste Absatz bloß als weiterer Eintrag in die Reihe der Wald- und Baum-Delirien zu lesen? So oder so:


I’m sitting under a tree / of p p p poe try!

Das Buch, aus dem um zehn vor neun Reinhard Lechner liest – „Portraits mit Riesenkalmar“ –, es sollte schon in der Edition Melos erschienen sein, ist aber gleichwohl noch nicht da (also: physisch im Raum vorhanden). Es sind Tableaus, poetisch gesetzt, je um eine Person weiblichen Geschlechts herum angeordnet, die als Textsubjekt zweiter Person angesprochen wird. Nicht alle der Tableaus sind realistisch: einmal geht es um eine Anne, die ausersehen ist, in einem Ernstfall zur Venus mitzufliegen und dort die Menschheit neu zu begründen. Lyrik als Porträtkunst. … Korrektur zu weiter oben: Nicht alle diese Texte haben (a) weibliche und (b) „Du“-Subjekte. Im Letzten ist es Lechners autofiktional-männliches Ich.

Reinhard Lechner
© Poesiegalerie

Reinhard Lechner
Legna Rodríguez Iglesias

An dieser Stelle – fünf nach Neun – kündigt Udo Kawasser einen Bonus-Track an, der nicht am Flyer steht. Die bedeutende kubanische Autorin Legna Rodríguez Iglesias, erst vor wenigen Stunden aus Miami eingeflogen (anlässlich des lateinamerikanischen Poesiefestivals LATINALE in Berlin kommende Woche und einer Veranstaltung zur kubanischen Literatur in der Alten Schmiede am nächsten Montag) wurde von ihrem Übersetzer Kawasser auf dem kurzen Dienstweg auch für die Poesiegalerie verpflichtet. Spanischer Vortrag: (mutmaßlich) klangbetonte Poesie. In Kawassers folgenden deutschem Vortrag offenbart sich ein Textgehalt, der vordergründig vom Wichsen beim Warten auf Godot handelt, auf deutsch anders erotisch als auf spanisch.

Die kubanische Autorin Legna Rodríguez Iglesias
© Poesiegalerie

Markus Lindner liest aus dem Band „Sternhagel“ (fabrik.transit) – also aus der einen Hälfte eines von beiden Seiten zu öffnenden Doppel-Bandes, der von zwei Autoren (nämlich Lindner und Andreas Pavlic) unter zwei Titeln verfasst ist. Lindners zum Teil mehrsprachige lakonische Miniaturen gewinnen, wenn man die fantastischen, kupferstichartigen Abbildungen beim Zuhören vor Augen hat, die im Band sind. Sein Text-Ich ist als Flaneur zu denken, der sich jener globalen Zusammenhänge tendenziell dauer-erschrocken gewahr bleibt, in die die Alltagsszenen eingebettet sind, durch die er sich bewegt …

Markus Lindner
© Poesiegalerie

See Also

Markus Lindner signalisiert den Sieg der Poesie
Reigna Hilber

Auf einen Weitwanderweg durch die USA, nahe der Grenze von North Dakota zu Minnesota, führt uns um 21:30 Regina Hilber mit dem Band „Super Songs Delight“ (ebenfalls fabrik.transit). Eine einsame Wanderin verliert sich in der Monotonie des Wandereralltags bzw. der Weite der Landschaft, und als einzige Lektüre bei sich hat sie das Drehbuch von „Fargo“.


Pack and unwrap. (…) Sing mir das Schlaflied aus dem script leuchtet Fargo.


Wir denken annähernd: Epos. Epos im alten Sinn, also: Darstellung eines geschlossenen Weltganzen, in dem sich dies und das ereignet (im Gegensatz zu neueren Erzählformen, wo das Ich sich die Welt erst erschließen muss). Dieses eine Drehbuch als arbiträrer Auszug aus einer Mythologie, den der Text dokumentiert, glimpse in einen Götterhimmel über der pittoresk zerrupften Prärie des 21. Jahrhunderts.

Regina Hilber
© Poesiegalerie

22:00 Uhr; das Publikum hinten, nahe der Bar, ist schon etwas unruhig. In der Pause sagte Katharina Johanna Ferner noch: „Gleich weck‘ ich euch eh alle wieder auf!“ Der erste Text, den sie aus ihrem neuen Band „Krötentage“ (Limbus) dann liest –


Ausgeküsst ist nicht. / Hängt ein Kussklotz an mir dran.


–, er ist lang und handelt vom Küssen; variiert, was sprachlich damit zu machen ist. Ist das Deklination eines Topos oder Boudoir-Story? Jedenfalls schon der zweite Text heute Abend, der sich als Liebes-, Eifersuchtserzählung in Gedichtform lesen lässt – zumindest: auch so lesen lässt. Der titelgebende Text, „Krötentage“, dann: Sexy zurechtgemachte Amphibien, Flüssigkeit, Körperflüssigkeit. Der Band ist übrigens laut Moderation insofern zweisprachig, als er streckenweise im Dialekt abgefasst ist. Soweit wir davon hören, nutzt Ferner das Gegenüber von „Hochsprache“ und Dialekt eher als Setup auflockernder Komik.

Katharina Johanna Ferner
© Poesiegalerie

Katharina Ferner
Christian Wolf

„Schall und Rauch“ (Sisyphus) von Christian Wolf: sympathisch flapsig aufbereitete Hermetik. Dem schon etwas müden Zuhörer will erscheinen, das wäre Figurenrede … aber was für eine Figur redet? Ein Liebhaber einer Angedichteten? Ein Beobachter ambivalent bukolischer Ernte-, Schlachtungs- und Fischereiszenen (das hieße: Naturlyrik im Sinne der Abbildung von Seelenregung in der Landschaft)? Soweit, so absichtlich diffus. Geprägt sind die Texte von der Vorliebe Wolfs, Abstrakta unmittelbar körperlichen Empfindung beizuordnen:


Alles riecht nach Sprache.

Christian Wolf
© Poesiegalerie

Die letzte deutschsprachige Lesung des Abends und also der Poesiegalerie 2022 hält Siljarosa Schletterer aus dem Band „azur ton nähe. flussdiktate“ (Limbus). Der Band ist ein Unterfangen im Sinne des „nature writing“ – jedes Gedicht ist genau (d.h. mit Koordinatenangabe) verortet, auf einen Flusslauf und eine bestimmte Stelle an diesem Flusslauf bezogen, und die Autorin sieht in dem jeweiligen Gewässer eine Co-Autorin. Schletterer ist sich in der Landschaft, von der und für die sie spricht, also buchstäblich er-gangen. In demjenigen Text, der vom Donaukanal handelt, klingt das etwa so:


wir spielen / erinnerungsbondage / auf meiner haut. (… ) will in dich sinken / und alle knochen auslagern. (…)
Im Lech-Gedicht finden wir:
(…) / umarme die Gewässer / wie gekämmte Wolken auf der Jagd nach Sonne (…)


Ist das Sprechen für den Fluß, für den Ort eine Setzung des „Magischen“, Schamanischen innerhalb des Kunstwerks? Oder eine Absage ans Kunstweltliche: die ernstgemeinte Behauptung vom inspirierten Text? Der Zuhörer denkt noch darüber nach, während der Applaus erklingt, und er bemerkt: Es ist drei Viertel elf, der deutschsprachige Teil für 2022 ist zu Ende, und so lang wie eingangs angekündigt wurde die Weile mitnichten.

Siljarosa Schletterer
© Poesiegalerie

Siljarosa Schletterer

Es folgt noch eine Lesung von zeitgenössischen literarischen Stimmen aus der Ukraine, die dank Michael Stiller vom Literaturhaus Niederösterreich und der von Gerhard Ruiss initiierten Online-Anthologie Ukrainische Stimmen ihren Weg in die diesjährige Poesiegalerie gefunden haben. Zuerst also die Lyrikerin und Kinderbuchillustratorin Julia Stakhivska, die aus Butscha fliehen musste und die in ihren dunklen, zum Teil in Krems verfassten Gedichten auch ihre Fluchterfahrung reflektiert.

Danach ein Konzert des ebenfalls aus der Gegend von Butscha mit seiner Frau geflohenen Liedermachers und Rockstars Taras Chubaj, eine Art nationalen Musikdenkmals, vergleichbar unserem Wolfgang Ambros, der nochmals spätabends über dreißig Ukrainerinnen angelockt hat und mit seinen auf Gedichten ukrainischer Dichterinnen basierenden Lieder die bis zum Rand gefüllte Poesiegalerie noch bis weit nach Mitternacht rockt. Man sieht immer wieder weinende Gesichter in der Zuhörerschaft, die, soweit sie Ukrainisch kann, auch fleißig mitsingt. Und so klingt die Poesiegalerie 2022 zwischen Bühne, Büchertisch und Tresen bis zwei Uhr am Morgen aus.

Zahlreiche ukrainische Fans im Publikum bei Tara Chubajs Konzert
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