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Der Himmel über Wien

Der Himmel über Wien

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Natascha Gruver liest Martin Winters Gedichte Früher war hier der Himmel sehr weit mit Fotos von Juliane Adler


Als Baustellenfetischistin hat mich der Foto- und Gedichtband Früher war hier der Himmel sehr weit von Martin Winter und Juliane Adler, Fotos, sofort angesprochen. Die Fotos stammen aus den Jahren 2010 bis 2016, insgesamt enthält der Band nur 20 Gedichte.

Das Cover des Bandes zeigt die Weite eines planierten Feldes, an dessen Ende ein Sendeturm in blaugraue Wolken ragt. Es ist eine Baustelle mit Erkennungswert – handelt es sich doch um den dem Erdboden gleichgemachten Südbahnhof, das Areal, auf dem in den letzten Jahren der nunmehr in Hauptbahnhof umbenannte Verkehrsknotenpunkt samt vielstöckigen Wohn- und Büroanlagen entstanden ist.

Cover © Verlag fabrik.transit

Cover Winter Martin Früher war hier der Himmel sehr weit.

Der Band bietet ein interessantes, ungewöhnliches und ästhetisch sehr ansprechendes Porträt der Stadt Wien, ein Porträt ihrer Geschichte und Gegenwart sowie deren Übergang in Form von Baustellen.

Beim Durchblättern des Bandes, stößt die Betrachter:in auf köstlich voyeuristische Aufnahmen von sich bückenden, sich streckenden, mal jausnenden, mal schwitzenden Bauarbeitern vor einer Kulisse aus Baggern und Kränen, Absperrungen und Baugräben – nicht die üblichen Wien-Motive für eine urbane Fotosafari. Die zwischen den Fotos eingestreuten Gedichte beziehen sich nicht unmittelbar auf diese, stehen mit den Abbildungen in keinem Zusammenhang. Vielmehr nehmen die Gedichte die Themen Himmel, Gestirne und Alltag auf und tragen diese Themen durch den Band.

Baustellen-Wien

Baustellen, von denen es in Wien zu jeder Zeit jede Menge gibt, die wie Pilze aus dem – zuvor planierten – Boden schießen: Kaum ist irgendwo eine Anlage, ein Hochhaus fertig, sieht man schon an anderer Stelle Kräne in den Himmel ragen. Ökonomisch gesehen sind sie ja ein gutes Zeichen, diese Mega-Baustellen: ob Donauplatte, Süd-, West- oder Nordbahnhof oder die derzeitige Mega-Baustelle Seestadt.

Was manchen Baustellen vorangeht, sind mitunter jahrelang vor sich hin schlummernde, wie im Dornröschenschlaf vor sich hin wuchernde, verlassene Gelände und Gebäude. Und wenn man eines Tages wieder mal daran vorbeikommt, ist plötzlich alles weg, der Boden planiert, und genau an dieser Stelle klafft stattdessen eine befremdliche Weite und Leere, und plötzlich ist er da, der Himmel über Wien, inmitten grauer Häuserzeilen, wo er eigentlich nicht hingehört. Fassungslos starren wir ihn an, den weiten Horizont über den planierten Ebenen, als wären sie nie dagewesen: die alten Baracken, Glashäuser, Keller und Schuppen.

Es ist diese Zwischenzeit und Zwischenwelt – das Alte weg, das Neue noch nicht da –, welche die Autor:innen dieses Bandes fotografisch wie poetisch erkundet und festgehalten haben: „Der alte Ort mit dem Südbahnhof und dem Frachtenbahnhof ist verschwunden, der neue mit der dort geplanten Bebauung noch nicht in die Höhe geschossen. In der Zeit dazwischen zeigt sich ein Ort mit eigenem Horizont.“ Zum Horizont gehören Wolken und Gestirne, die leisen Schauspiele und Spektakel des Himmels, die sich den Wiener:innen an diesen ‚Orten mit eigenem Horizont‘ vorübergehend zeigen, und so bilden denn Sonne, Mond und Sterne ein weiteres Motiv, das in den Gedichten des Bandes seinen Niederschlag findet:

SONNENAUFGANG

sonnenaufgang ist noch ein zauber, 
früher war hier der himmel sehr weit
früher war der horizont
ein großer sonnenaufgang
die sonne ist über der bahn aufgegangen
du hast geglaubt hier hört die stadt auf
und du schaust in die weite
dann haben sie dort bei der schule gebaut
und das haus gegenüber
wo die straßenbahn fährt waren container
drei stock container übereinander
für die bauarbeiter
am hauptbahnhof waren die flüchtlinge
alles war offen

Grüße aus Suburbia

Neben Baustellen und Horizonten werden in diesem Band auch Alltagsszenen eines „typischen“ Wiener Lebens evoziert, zu dem Fahrten mit der S-Bahn vom und zum Flughafen Schwechat, vorbei an der OMV, ebenso gehören wie die Gratiszeitung, das Kaffeehaus und die Enten im Stadtpark oder am Donaukanal, wie porträtiert im Gedicht „HEUTE“:

See Also

HEUTE

kinder sind wie kleine hunde
enten stecken ihre schnäbel
enten stecken ihre köpfe
hinten rein und dösen noch
es ist schließlich wochenende
kinder wollen aus dem haus
oder jedenfalls der kleine
will gleich in die nächste bar
will nicht zu den kinderbüchern
will nicht gratis ins museum
ich bestell einen espresso
nehm das gratis brot heraus
oder eine gratis-zeitschrift
etwas von der viennale
oder wo sich sonst die menschen
in der kälte der früh
vor den kartenschalter stellen
leo klettert im cafe
und ich schreibe ein gedicht
(…)

Der letzte Teil des Bandes zeigt Fotos aus Wien Suburbia, Bilder aus dem Vorstadt-Wien, das man aus TV-Serien wie „Ein echter Wiener geht nicht unter“ von Ernst Hinterberger kennt: trist-schrullige Geschäftslokale, Mini-Greißler, Handy-Shops, Imbissstuben, die ihre besseren Tage längst hinter sich haben, oder das Internet-Café, das keiner mehr braucht. Schaufenster, versperrt und verbarrikadiert, als ob sie die nächsten wären, denen die Planierung bevorsteht.

Ja, es gilt, dies alles festzuhalten, diesen untergegangenen oder gerade untergehenden Wiener Mikrokosmen ein lyrisches und fotografisches Denkmal zu setzen. Denn das Herumstreunen auf Baustellen ist heute schwierig, wenn nicht unmöglich geworden. Konnte man früher noch Zäune und Absperrungen überklettern, irgendwo ein Schlupfloch finden, so ist heute alles längst mit Security-Personal und Kameras überwacht. Baustelleneingänge mit Keycard und Drehkreuz – so gesehen an den Baustellen Postgasse und Mariahilfer Straße.

Neben den ästhetisch ansprechenden Fotos und Gedichten besticht der Band mit einem handlichen, ungewöhnlichen Querformat (20,7 x 11,5 cm) in der Größe von Panoramapostkarten: Quasi wie „Grüße aus Wien“ – nur nicht mit dem üblichen Wien-Motiv von Schloss Schönbrunn, Stephansdom oder Rathaus. Er schließt mit folgendem Gedicht:

HIMMEL

der himmel ist wirklich das allerschönste
so viel schöner als alles hier unten
besonders die menschen mit ihren hunden
der himmel ist wirklich das allerschönste 

So lasst uns denn hinaufschauen vom mieselsüchtigen, grantig-schrulligen Mundl-Wien, hinauf zu den Sternen und uns erinnern, an die unvergängliche Schönheit des Oberirdischen.


Martin Winter, Juliane Adler (Fotos): Früher war hier der Himmel sehr weit. Fotos und Gedichte, Verlag fabrik.transit, Wien 2022. 120 Seiten mit 79 farbigen Abbildungen, Euro 13,-

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