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Der vierten Poesiegalerie zweiter Tag

Der vierten Poesiegalerie zweiter Tag

Von schamanischen Pluriversen bis zum Trost der Lyrik

Von Kirstin Breitenfellner


Achtzehn Uhr fünfzehn. Es wird dunkel im Saal nach Ende des akademischen Viertels, das dem Wiener Publikum bei Lesungen gerne zugestanden wird zum Zuspätkommen. Es trägt Maske und darf in der Pause nach jeweils einer halben Stunde für abwechselnd fünf und fünfzehn Minuten Luft holen. „Darf ich // nur atmen? Zum 20. Todestag von CHRISTIAN LOIDL“ heißt der erste Programmpunkt, der auf eine Dreiviertelstunde angesetzt ist. Der Musiker, Autor und Literaturwissenschaftler Thomas Antonic, der „SchriftSteller, transmedialist, nischendaseinsberechtigte, randexistenzenbeauftragte“ Christian Katt und der Autor, Musiker und Literaturwissenschaftler Helmut Neundlinger gestalten ihn und spiegeln mit ihren eigenen Biografien die Transmedialität von Christian Loidl wieder. 

© Eva Lavric

Der Sinnsucher und Künstler in Personalunion Loidl suchte einen performativen Zugang zur Poesie, lernen die Loidl-Unkundigen in der biografischen Einführung von Helmut Neundlinger. Im Publikum sitzen aber auch etliche Weggefährten und der Verleger Christian Loidls. Thomas Antonic beschäftigte sich jahrelang mit Wolfgang Bauer dem Einfluss der Beat-Generation auf die österreichische Lyrik und ordnet Loidl in diesen Kosmos ein. Loidl traf 1980 auf Alan Ginsberg, erzählt Antonic. Ein Erweckungserlebnis. Die produktivere Reibefläche aber sei William S. Boroughs gewesen. Seitdem war auch Loidls Lyrik auf „spoken word“ ausgerichtet, er benutzte und übersteigerte den Dialekt seiner oberösterreichischen Heimat, um diese Archaik zu erreichen. Aber auch buddhistische Einflüsse spielen eine Rolle, etwa der Urlaut „Om“, sowie Zaubersprüche. 1992 gründete Loidl mit Christian Ide Hintze die Schule für Dichtung in Wien. 

Danach geht Christian Katt, wie Neundlinger ankündigt, „knietief“ in die Texte Loidls. Katt nennt seine mit Anekdoten und sogar Träumen über Loidl angereicherten Ausführungen lieber „extended word rap“ über das schmanische „Pluriversum“ Loidl. Lyrik rockt.

Die erste klassische Lesung des Abends bestreitet mit Julian Schutting, schmal und mit weißem Käppi, der bis zu seiner Geschlechtsangleichung 1989 Jutta Schutting hieß und als Jahrgang 1937 der Senior unter den heute Lesenden ist und trotzdem noch im Wortsinn als Avantgarde, als Vorkämpfer gelten kann. Im Publikum entdeckt man immer mehr junge Gesichter. Lyrik hat nicht nur Tradition, sie erfährt auch gerade eine Renaissance, wie nicht zuletzt das Lesefestival der Poesigalerie beweist. Schutting liest aus seinem Buch Winterreise, das sich tatsächlich auf Wilhelm Müllers gleichnamige, 200 Jahre alte „Winterreise“ bezieht, „aber nur so aus der Erinnerung“. Diese beginnt mit den von Franz Schubert so betörend vertonten Worten „Fremd bin ich eingezogen“. „Keine Krähe war mit mir aus der Stadt gezogen“, heißt es in Schuttings Adaption. Die Krähe, das „wunderliche Vogeltier“ hackt dem lyrischen Ich das linke Auge aus. Und die „Brunnen vor den Toren“ kommen auch vor, die schließlich zu „Brunnen vor verschlossenen Toren“ werden. Eine Anverwandlung durch die Zeit, die beweist, dass modern ein relativer Begriff ist.

Monika Vasik leitet die Lesung von Julian Schutting ein © Poesiegalerie

Waltraud Haas beginnt mit einem Kurzprosatext aus dem Klever-Band „Mit der Axt in der Hand“, der in die Abgründe der Kindheit führt. Auch die Lyrik spricht eine Mama an, an die eine liebevolle Erinnerung schwerfällt. „Affenliebe: Wo die Liebe sich hinhängt, bleibt der Affe stecken.“ Diese schonungslose Lyrik pfeift auf tröstliche Gedanken und findet scharfe Worte für die Verwundungen der Vergangenheit. „Ich bin ein Solitärfischchen drunten im tiefen Meer.“ Aber auch das heutige Ich spricht und verzichtet auf Nagellack und Badewanne und nimmt damit einen „prosaischen Abgang“ in Kauf. Dafür gibt es sogar Lacher im jugendlichen Publikum. „Mein Lieblingsgedicht ist immer das, das ich morgen schreiben werde“, reflektiert ein Kurzgedicht den Schaffensprozess. Ironie und Selbstironie kennen glücklicherweise kein Alter.

Die heimische Lyrikszene ist reich an bunten Vögeln. Ilse Kilic wird von Monika Vasik als „leidenschaftliche Schwimmerin“ und „leidenschaftliche Bietrinkerin“ vorgestellt. Sie liest mit kraftvoller Stimme aus „Monikas Chaosprotokoll“ und zwei weiteren Bänden. „Ich durchschwamm den Attersee“. Nach Malta hingegen bringt das lyrische Ich die Fähre. „Ein Gedicht ist immer ein Versuch. Es versucht zu gelingen.“ Auch Kilic’ Lyrik reflektiert den Akt des Schreibens. Sie blattelt die Wörter auf. Das Duell steckt sich bei ihr auf indivi-duell. Worte sind nicht nur da, damit wir sie verwenden, sie sind auch Festschreibungen, wie das Wort Liebe, das Kilic nicht mag. Trotzdem widerruft sie ihre Aussage, „Liebesgegnerin“ zu sein. Ihre Ode an die Liebe gerät dann umso eindrücklicher und mündet in den Schlusssatz: „Die Liebe ist ein Gedicht.“ Zum Abschluss trägt sie einen Zweiteiler vor, den sie auswendig kann. „Ich suche nicht des Lebens Sinn, weil ich dieser selber bin.“ Und beweist damit vollends, dass Lyrik keine bierernste Sache sein muss. Gelächter und Applaus.

Zahlreiches und höchst aufmerksames Publikum bei den Lesungen der POESIEGALERIE

Stephan Eibel zählt ebenfalls zu den Urgesteinen der Szene und hat seine Verlagsheimat bei Limbus gefunden. Er kann sogar das Gedicht auswendig, das er vor vielen Jahren Ilse Kilic gewidmet hat, und trägt es im Stehen vor. Ein fulminanter Übergang. Dann liest er doch aus seinem neuen Buch und setzt sich an den Tisch. Humor und Kindheit spielen auch hier eine Rolle, in „Gebirgsketten mit Riesenproblembergen“, an deren Fuße die Elterngeneration lauert und nichts Gutes im Sinn hat. 

„Bevölkerungsaustausch“ – der Begriff zeitgenössischer Verschwörungstheorien wird von Eibel durch den Kakao gezogen. Er lässt in dem gleichnamigen Gedicht Menschen verschiedenster Nationen in andere Länder ziehen. Nur die Österreicher ziehen in die Vergangenheit. Stefan Eibel aber vermag jetzt und hier das Publikum bei der Stange und in der Gegenwart des Augenblicks zu halten. Zum Beispiel, indem er ihm die langen Gedichte erspart. Nicht aber seinen Herzinfarkt im Jahr 2020, seine zahlreichen neue Tränensäcke, das Virus und Urlaube über Urlaube und das, so der launige Autor: „finale Gedicht über das Sterben“: „Sterben: Der letzte Versuch, das Leben madig zu machen.“ Die Jugend findet das lustig.

Es ist fünf nach halb neun, die gestrengen Zeitwächter und Moderatoren Udo Kawasser, Monika Vasik und Peter Clar konnten die Überziehung am Anfang noch nicht aufholen. Sie wird den langen Abend auf nicht unangenehme Weise verlängern. 

Bericht vom zweiten Tag der Poesiegalerie 2021

Michael Stavarič mit Irokesenschnitt gehört auch nicht eben zu den unauffälligen Erscheinungen des Literaturbetriebs. Für den Band „Zu brechen bleibt die See“ hat einer eine Reihe weiterer Autoren und Autorinnen eingeladen, sein „Plädoyer“ gegen Weltuntergänge und Sinnverluste weiterzuschreiben. Am Schluss des Buchs weiß man nicht mehr wirklich, wer schreibt, erklärt er das Konzept. Stavarič liest aber nur seinen eignen Text. Auch er reflektiert die Funktion und das Wesen von Lyrik, ein roter Faden des bisherigen Abends. Hier geht es jetzt darum, was diese nicht kann.

Bild: Michael Stavaric © Poesiegalerie

„Poesie verfügt über kein Raubtiergebiss.“ „Poesie ersetzt keine Angelruten.“ „Mit Poesie lassen sich keine Tierpfleger ersetzen.“ „Mit Poesie lassen sich keine Feuersalamander in Brand setzen.“ Tiere, reale und irreale, spielen eine große Rolle und stehen für das sprachlose, nicht korrumpierte, ungestutzte Lebendige. Stavarič’ Vortrag, dringlich und rhythmisch straff, fesselt die Aufmerksamkeit. „Man wacht auf, und die Poesie schlitzt einem die Pulsadern auf.“ Lyrik ist nicht harmlos. Sie ist lebensnotwendig, obwohl sie doch das meiste nicht kann. Nicht mal die Welt erklären. Sie ist das Paradox, dem alle hier Anwesenden verfallen sind oder spätestens jetzt verfallen, möchte man denken. Dass Stavarič den Wörtern verfallen ist und sie zu Monsterkomposita zusammenzuschrauben liebt, ist jedenfalls eine Tatsache.

Herbert Christian Stöger ist aus Linz angereist. Er studierte zunächst bildende Kunst, eine der zahlreichen Doppelbegabungen der Veranstaltungsreihe Poesiegalerie. Das spiegelt auch der barocke Titel seines neuen Buchs wider: „Von hier bis bald. Ein begonnener Roman mit richtigem Gedichtwerk und Fotos“. Es geht um Flucht, Tränen, Bahnsteige, das Verhältnis von Holz, Ofen und Feuer, mit Reimen, die manchmal Kalauern ähneln und dem Schüttelreim zugeneigt sind. „Ein Narr hat einen Narren aufgefressen, ein anderer ihn wieder ausgeschissen.“ „Denn ich bin der, der gerne schüttelt, was aus mir entspringt gerüttelt.“ Diese Verse bleiben im Hals stecken, und das scheint auch intendiert. Gelacht wird hier nicht viel. Das Waschmittel namens Sonett macht dem Abschluss und ersetzt die Reflexion über Lyrik durch bitterböse Satire.

Bea Schmiedl wacht über den Bücherschatz der Poesiegalerie © Poesiegalerie

Alexander Nitzberg stammt aus einer russischen Künstler- und Vortragskünstlerfamilie, lebt seit 1980 in Österreich und Deutschland und stellt die zweisprachige Anthologie „Revolution der Sterne. Eine Anthologie russischer Dichtung der Gegenwart“ vor. Zuerst fordert er einen Applaus, den das Publikum gerne spendet. Aber einer reicht ihm nicht. Zwei und drei ebenfalls nicht. Beim vierten Mal klatschen nur noch wenige. „Danke, das reicht. Nicht wahr? Ein gutes Gedicht geworden“, verrät Nitzberg die Pointe. Das Gedicht stammt von German Lukonikov. Es hat keine Sprache, aber Witz. Das nächste Gedicht wird auf Russisch gelesen und betört durch die Sprachmelodie auch jene, die zunächst nichts verstehen. Die anschließende deutsche Version scheint von einem anderen Stern zu stammen. Gedicht sind nicht nur Inhalt, sie sind auch Musik.

Das Gedicht „Das weiße Quadrat“ von German Getsewitsch ist Kasimir Malewitsch gewidmet. Auch hier treten die Künste in einen Dialog. Auch einen schon vor ein paar Jahren verstorbenen Dichter hat Nitzberg in seine Anthologie der Gegenwart geschmuggelt. Anatoli Grunwald starb in Leipzig auf tragische Weise und erhielt in „Revolution der Sterne“ ein Denkmal. Dichtung vereint Tod und Leben, und sie kann den Dichtern ein Nachleben sichern, zumindest in ihren Texten. Wjatscheslaw Kupriyanow ist der Ästhetik Chinas verfallen. In seinem Gedicht sinkt das Kleid der schönen Chinesin zu Boden, weil die Haut der Frau so glatt ist. Inga Kuznetsova erinnert auf Russisch an den Ton des Romantikers Michail Lermontov und schreibt über die Sonnengötter Eltern, den Liebesapfel im Inneren und klingt einfach bezaubernd schön. Man lernt: Schönheit ist an keine Mode gebunden. Und Lyrik und Schönheit schließen sich hier nicht aus.

Mit Yousif Ahmed, aus dem Irak stammend, kehrt Ernst in die Veranstaltung ein. Er wird von Udo Kawasser als „angry young man“ eingeführt und trägt eine dramatische Biografie mit sich, geprägt von Flucht, Gewalt und Krieg. Ebenfalls multibegabt arbeitet er als Schauspieler, Musiker und 3D-Designer. Und Dichter. Aus seinem ersten Buch auf Deutsch liest er auf Englisch. Es heißt „I’m no longer human“. Den deutschen Part liest Udo Kawasser. Ahmed seziert die Begriffe Mensch und Menschlichkeit. Seine Texte sind präzise Beobachtungen. Einer handelt von Ikarus, dem gestrauchelten Flugexperimentator. Ahmeds Stimme lässt wenig Emotionen erkennen, umso dichter erscheinen seine Beobachtungen. „Du hast mich jung gealtert“, richtet er seinem Vater aus. Und dass er ihn bipolar gemacht habe. „Dreckstück. Jetzt bin ich weg. Fick dich Irak.“

Youssif Ahmed + Udo Kawasser © Poesiegalerie

Dass Ahmeds Verlag Haymon sich veranlasst sieht, das Buch mit einer Triggerwarnung zu brandmarken, wirft über die Notwendigkeit, über die dunkelsten Seiten des Lebens zu schreiben zu, in einen seltsamen Schatten. „Triggerwarnung:Yousif T. Ahmeds Gedichtband konfrontiert dich mit Fluchterfahrung, (sexueller) Gewalt, Rassismus und den Auswirkungen von psychischen Erkrankungen.“ Gedichte können gefährlich sein. Aber sie sind überlebensnotwendig. Mehr als die Empathie, mit der die Freunde des lyrischen Ich dieses überschütten, ohne dass es sie brauchen würde. Es erwartet sich Respekt. Und diesen kann man einem solchen Werk kaum verwehren. Anhaltender Applaus.

Die türkische Lyrikerin Aysu Akcan und ihre Übersetzerin, die Komparatistin Johanna Chovanec, lesen zweisprachig aus demnächst in der Zeitschrift perspektive erscheinenden Gedichten. Akcan ging in Baku, Aserbaidschan, zur Schule und studierte in Ankara Geschichte. Sie unterrichtet an der Universität Wien Digital Humanities und Osmanistik. „Im Deutschen gibt es für alle Gefühle ein Wort, das sie erklärt“, klärt Akcans Text das überraschte deutschsprachige Publikum auf – und nennt Beispiele. Triumphlachen. Schreckensereignis.

Bild: Aysu Akcan mit Übersetzerin Johanna Chovanec,
© Poesiegalerie

Aber zwischen den Kulturen klafft kein Abgrund, nicht nur nicht sprachlich, sondern auch nicht in der Bildsprache. Akcans Lyrik klingt, zumindest in der Übersetzung, tief vertraut. „Der Brief aus der Serviette, der Silbervogel. Mich hat ein Lachen gepackt.“ „Der Frühling kommt nun mit einer scharfen Kälte. Mach dich bereit.“ „Töten kann mich nun keiner mehr. Glück ist eine Feuerpistole. Heißer.“ „Exil. Wir lachen.“ Auf Türkisch klingt das ganz anders. Wie sonst. Am Schluss erzählen Akcan und Chovanec vom gemeinsamen Prozess der Übersetzung und seinen Herausforderungen. So war es etwa nicht leicht, die , Ambiguitäten der türkischen Grammatik, die dem Schwebenden eines Gedichts entgegenkommt, etwa bezüglich Geschlecht, ins Deutsche zu übertragen. Hier mussten sie oft schweren Herzens eindeutiger werden, zuspitzen. Und das ist Poesie bekanntlich nicht zuträglich. Ein weiterer Grund, neue Sprachen, zum Beispiel Türkisch zu lernen.

See Also

„Erzähl mir von Istanbul“, fordert das lyrische Ich in der nächsten Lesung von der geliebten Frau. „Jetzt kommt Mister Kawasser“, hat Monika Vasik die nächste Lesung angekündigt. Der Veranstalter – Philologe, Ex-Tänzer, Dichter und unermüdlicher Vertreter der Sache Lyrik – liest aus seinem 2020 im Limbus Verlag erschienenen Band „die blaue reise. donau-bosporus“, dessen Initialzündung vor 15 Jahren nun in einer fernen Zeit zu liegen scheint, wie Kawasser erzählt. Denn damals galt die Türkei als ernsthafter Beitrittskandidat für die EU. Die Granatäpfel auf dem Cover zeugen davon. 

Du weißt, wir werden keine Erinnerung an unsere Zukunft haben.  
Erklär mir Wien, oder der Regen spült mich fort von hier. 
Man kann beim Lesen einschlafen, aber nicht lesend erwachen. 

Kawasser stammt aus Vorarlberg. Dort nennt man den Mais Türken und das Maisfeld Türkenfeld. Die Wörter spießen sich und schreiben sich aneinander vorbei. „Heute komme ich in Kleinbuchstaben zu dir“, flüstert Kawasser. Er lässt seine Stimme die Verse modulieren und plastisch werden, beschleunigt und verlangsamt den Lesefluss. Eine Performance. „Bin ich gut in der Zeit?“, fragt er dazwischen und lächelt. Der Dichter-Veranstalter stellt eine weitere Zwiegestalt des Abends dar, an dem man Eindeutigkeiten nicht vermisst. Lyrik lebt vom Mehrdeutigen und dem Allesaufeinmalsein, der Pluralität, dem Flüssigen. Lyrik fließt, so wie die Donau von Wien ins Schwarze Meer und damit zum Bosporus. „Wenn die Zeit ein Mund ist, wie werden wir dann ihre Zunge?“

Halb elf. Die Zeit ist wie im Flug vergangen. Das Publikum hat sich nicht sehr merklich verdünnt. Der erste Dichter des letzten Leseblocks heißt Maximilian Scheffold. Das Motto seines Buchs stammt vom früh verstorbenen österreichischen Einbuch-Avantgarde-Dichterfürsten Reinhard Priessnitz: „Ich und du, klipp und unklar.“ Dahinter stehen Roland Barthes‘ „Fragmente einer Sprache der Liebe“, wie Scheffold verrät. Scheffolds Lesefluss stürmt dahin. Man schnappt Bilder auf, Wortfetzen und kann sie kaum halten. Die Unübersichtlichkeit ist Programm. Dazwischen geht es um eine Trennung. „Du willst fort, sage ich. Ja, sagt sie. Ja, sage ich.“ „Du gehst, sage ich. Ja, sagt sie.“ Hinter der Eindeutigkeit steckt Verwirrung. Das Bild mit allem im Bild Aufgestellten bewege sich, aber vermutlich würden sich doch nur die Menschen oder die Gefühle bewegen, sinniert das lyrische Ich. Ja und Nein gelten gleichzeitig und was zu sagen wäre, lässt sich nicht ausdrücken. Die Sätze fallen auseinander und mit ihnen die Gedanken.

Foto: Maximilian Scheffold © Poesiegalerie

In diesem Text tanzen die Wörter, und die Bedeutung flirrt nur hier und da auf, um wieder weiter zu stolpern. Der Lesefluss beschleunigt sich, als ob er dem Sinn hinterherjagen könnte und die flüchtige Bedeutung mit genügend Geschwindigkeit irgendwann einholen. Zwischen Redewendungen „was hast du vor zu machen“ und „sich etwas vormachen“ entstehen Strudel, in die die Zuhörer hineingezogen werden, schwindlig von der sich nicht einstellen wollenden Sicherheit, von dem Sog des Unverständnisses. Ein Ritualtanz um das Ringen nach Ausdruck, der nur mit einem Kuss beendet werden kann und zumindest mit der Möglichkeit eines solchen zu Ende gebracht wird. Lyrik und Liebe sind Zwillinge, zumindest wird Ersterer vom Scheitern Zweiterer in Gang gesetzt.

Chun Sue wurde in Peking geboren. Sie liest mit Unterstützung des Sinologen, Übersetzers und Lyrikers Martin Winter. Ungewohnte stimmlose und stimmhafte Sch-Laute reinigen die Ohren nach über fünf Stunden mit Lesungen. Die Bedeutung erschließt sich für die meisten Zuhörer in der englischen und deutschen Übersetzung. Es geht um Amber, Bernstein. „Time is so slow, it has stretched (…). We are moving slowly for reshrinking.“ „Wir bewegen uns langsam, schrumpfen endlos, bis wir zwei Käfer sind (…). Wir halten es nicht aus, deswegen sind wir uns nah.“

Chun Sue verströmt eine strenge Ernsthaftigkeit, Martin Winter lächelt milde und nickt mit seitwärts geneigtem Kopf. Ein Paar voller Gegensätze und damit passend zum heutigen Abend. Ein Text handelt von einer Nacht in Nordkorea, in Pjöngjang. Es geht um ein Rendezvous. Die Romantik wird von Taschenlampen gestört und ihrem eigenen programmatischen Begriff von Liebe. Einblicke in unbekannte Welten, von denen man gerne mehr hören würde.

Peter Enzinger hat Glück, dass es nach ihm noch eine Buchverlosung gibt, möchte man denken. Aber hier sitzen Enthusiasten, die auch ohne „Zuckerl“ bis zum Ende ausharren, und das heißt Mitternacht. Enzinger liest vom Ende des Sommers, während draußen der Herbst zu klirren anfängt. Die 33 Gedichte in „frühe Feuer“ sind flankiert von 33 Kohlezeichnungen von Georg Bernsteiner. Enzinger, bedächtig, mit belegter Stimme lesend, lässt einen bewegten Abend ausklingen, zur Ruhe kommen. Es geht um Trauer und Tod. Ein Schmerz schwebt in der Luft. Kann Lyrik Trost bieten? Manchmal muss sie es und darf nicht anders.

© alle Bilder: Poesiegalerie

Für alle, die bis jetzt ausgeharrt haben, gibt es nun die von Peter Clar, Rachel Quevedo und Udo Kawasser launig bestrittene Buchverlosung. Morgen geht es weiter mit dem Lesemarathon, der mit der ersten Poesiegalerie-Veranstaltung für Kinder schon am Nachmittag beginnt.

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