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Die Anthologie des Feldkircher Lyrikpreis 2022

Die Anthologie des Feldkircher Lyrikpreis 2022

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Jelena Dabic liest die Anthologie nur die kontur eines kreises


Der Feldkircher Lyrikpreis wurde vor genau 20 Jahren ins Leben gerufen, und zwar nach einer Lyriklesung, wie man im angenehm knappen Vorwort der Herausgeberin nachlesen kann. Als lose thematische Vorgabe für 2022 firmierte die Passage „auf der seite nur die kontur eines kreises“ aus einem Gedicht der Preisträgerin von 2021, Sarah Rinderer.

Eine vierköpfige Jury, deren Mitglieder sich gemeinsam mit den Jurymitgliedern der letzten 20 Jahre im beachtlichen Anhang des Bandes in Einzelessays zu Wort melden, wählte aus mehr als 200 Einsendungen je vier AutorInnen aus. In einer gemeinsamen Sitzung am Wolfgangsee wurden schließlich die drei Preisträger ermittelt. Ein Publikumspreis wird auch vergeben, aber erst am Abend der Preisverleihung.

Der erste Preis wurde an die in Stuttgart lebende Lyrikerin und Musikerin Ann Kathrin Ast (Jg. 1986), der zweite ex aequo an den aus Kärnten stammenden und in Wien lebenden Theaterautor und Lyriker Philipp Hauser (Jg. 1992) und den in Nürnberg geborenen Münchner Autor Armin Steigenberger (Jg. 1965) verliehen. Auch die übrigen Einreichungen stammen etwa zur Hälfte von österreichischen und deutschen AutorInnen und von einigen wenigen mit Wohnsitz in der Schweiz, fast alle mit umfassender Publikationsliste. Zudem sind manche in einem weiteren Bereich künstlerisch tätig, etwa in Musik oder Fotografie. Nicht wenige haben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig oder am Institut für Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst in Wien studiert.

Zum Gedichtzyklus der Preisträgerin Ann Kathrin Ast

Sieht man sich den Gedichtzyklus der Preisträgerin Ann Kathrin Ast an, fällt sofort ihr experimenteller Umgang mit der Sprache auf. Die Texte füllen – durch etliche Lücken in den Zeilen – die ganze Seite aus, was die Flüssigkeit der Lektüre beeinträchtigt. Thematisch befasst sich das mit „in diesem liegen (…)“ betitelte Langgedicht mit dem Akt der Geburt und der ersten Zeit der jungen Mutter mit dem Neugeborenen. Dabei setzt Ast auf eine zerstückelte Syntax, die Wörter selbst bleiben aber ganz.

Der Leser taucht in das Setting eines flirrenden, sehr heißen Sommertages ein, die Hitze steht im Krankenzimmer wie später im Park. Überwiegt im ersten Teil das physische Erlebnis der Geburt mit all den technischen Einzelheiten eines modernen Geburtszimmers – „liegen“, „zerren“, aber auch „schweben“ bilden hier das Vokabular, das die Situation indirekt erklärt –, rückt später die Auseinandersetzung des lyrischen Ichs mit dem Neugeborenen selbst, aber auch mit der Beziehung zur eigenen Mutter in den Vordergrund.

Insgesamt findet Ast immer wieder passende und originelle Metaphern für dieses fundamentale Erlebnis und seine Nachwirkung. Durch aufgeschnappte Sätze von Hebammen und Krankenschwestern – oder eher Satzfetzen davon – erhält dieser intime Moment eine gesellschaftliche Dimension, der die Erwartungen an die junge Mutter zur Sprache bringt. Die noch ungewohnte Mutter-Kind-Symbiose dominiert den dritten und vierten Teil des Gedichtzyklus, um dann mit einem sehr überraschenden Schluss aufzuwarten.

in dieser aufgekratzten nacht              helles schlafen
            offene fenster      tropisch       weißer nebel
                                                  atmet jetzt selbst
seither bin ich angreifbar       eine offenliegende
                                                                     prüfung    im nacken nass
überwach    ob sich hebt und senkt

Die Erzählminiaturen von Philipp Hauser

Die fünf Gedichte von Philipp Hauser lesen sich im Vergleich dazu deutlich flüssiger, ja geradezu melodisch, auch wenn er einige wenige Komposita in ihre Einzelteile zerlegt und mit Schriftarten und Kursivsetzungen spielt. Der Autor bezieht sich direkt oder indirekt auf Wittgensteins Tractatus logico-philosophoicus, auf einen bekannten Popsong, ein typisches Motiv der Malerei, bestimmte Fachbegriffe, etwa aus der Statistik, aber auch auf Literarisches (etwa Umberto Ecos Roman „Der Name der Rose“). Zeitliche und räumliche Verortung dieser Erzählminiaturen lassen sich manchmal erkennen (eine Karussellfahrt zu zweit), manchmal bleiben sie auf eine angenehme Weise unklar (ein Unfall? Landung eines Flugzeugs?). Thematisch verhandelt der Autor Fragen der Freiheit und des Gefangenseins, das Gefühl des Verlorenseins, die Frage nach Heimat und Zugehörigkeit – aber stets mit einem Augenzwinkern. Hausers Gedichte sind sprachlich raffiniert, und zwar auf eine sehr zeitgenössische Art; sein Spiel mit Synonymen, Alliterationen, neuen Wortzusammensetzungen und die generelle Kargheit seiner kurzen Texte überzeugen auf ganzer Ebene.

See Also

ist es das?
weil der boden unter deinen füßen
verschwindet, ist es das? gewirr von stimmen
             und flickerbilder, überflüssige
tautologie der kalten hände wie
              ein zaungast zusehen

Die Langzeiler von Armin Steigenberger

Den zweiten Preis teilt sich Hauser mit dem deutlich älteren und umtriebigen Kollegen Armin Steigenberger, dessen langzeilige Gedichte mit ausschließlich englischsprachigen Titeln und ebensolchen Eingangszitaten durch und durch politisch sind. Der als „Weltenbrand 3a“ übertitelte Zyklus quillt über vor Zitaten und Andeutungen: Mythologie, Populärkultur, Schlagwörter aus der Tagespolitik (von „Krimsekt“ bis „Ölpreis“, von „Omikron“ bis „Putin“), aber auch aus den Bereichen Medizin, Naturwissenschaft, klassische Musik, Finanzen und Versicherungen, soziale Medien und der schönen Literatur.

Man könnte hier von einem geradezu inflationären Einsatz von Wissen aus allen möglichen Sphären sprechen. Zusammen mit einer allzu starken Präsenz von Nominalisierungen – egal, ob bereits bestehende Komposita oder neue Zusammensetzungen („Majestätsverteidigung“, „Vollkaskoherz“, „Heldenimmunität“, „Hormoncocktail“) – lassen diese informationsübersättigten, sehr kopflastigen Texte die Lektüre bald ermüdend werden, auch wenn sie brandaktuell und nicht ohne Witz sind. Der ständige Bezug auf alle möglichen Ereignisse und Zustände der Welt sowie der argumentierende und urteilende Tonfall lässt sie letztlich stark in die Nähe des Journalismus rücken – bei allem Respekt für das Kenntnisreichtum und die Kombinationsgabe des Autors.

Verbeulte Freuden. Räubersystolen:
Die zielten mitten in die Antikörper und bildeten muttergültige Verlaufsformen
im eternal blue. Das Feuergespiel gegen Mondschein versichelt lippenlaut, mondschöne 
Hetztjagden, Querbeettage in Apoplexien!

Zusammen mit all den hier nicht erwähnten weiteren Einreichungen von immerhin 17 weiteren AutorInnen bietet die Anthologie einen repräsentativen, in sich sehr differenzierten Ausschnitt aus dem deutschsprachigen lyrischen Schaffen der Gegenwart abseits von den ganz großen Namen. Die ausführlichen Statements der aktuellen und früheren Jurymitglieder bieten dem interessierten Leser, der interessierten Leserin ebenfalls eine lohnende Lektüre.


Erika Kronabitter (Hg.): nur die kontur eines kreises. 20. Feldkircher Lyrikpreis 2022. EditionArtScience 11/2022, St. Wolfgang. 259 Seiten, Euro 24,00.

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