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Verspielt, frei und erfinderisch sein

Verspielt, frei und erfinderisch sein

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Jelena Dabić liest Michael Stavaričs Die Suche nach dem Ende der Dunkelheit


Wer sich durch den Titel des neuen Gedichtbands von Michael Stavarič an Louis-Ferdinand Céline erinnert fühlt, liegt falsch: Dieser Textzyklus hat weder mit Krieg noch mit Afrika noch mit dem Arztberuf zu tun. Dafür aber sehr viel mit dem Meer oder genau genommen mit dem Ozean: Darauf verweist auch ein so poetisches wie anregendes Zitat der kanadischen Dichterin und Romanautorin Sue Goyette. Und noch mehr zu tun hat diese Art von erzählender Lyrik oder poetischer Prosa mit dem restlichen literarischen Schaffen von Michael Stavarič selbst.

Cover Stavaric Die Suche nach dem Ende

Der äußerst produktive Autor ist in erstaunlich vielen Genres zu Hause: neben Romanen (Gotland, 2017, und Das Phantom, 2023, beide bei Luchterhand erschienen) und Lyrikbänden (Zu brechen bleibt die See, Czernin 2020), Erzählungen und Essays hat Stavarič in den letzten zehn Jahren gar nicht wenige Kinderbücher verfasst – ein paar davon auch in tschechischer Sprache.

Cover © Limbus Lyrik

Typisch für die Prosa wie für die Lyrik Stavaričs ist eine ständige Beimischung des Surrealen, Fantastischen und Grotesken in scheinbar realistische Settings. Das Gefühl für kindliche Verhaltensweisen spielt im vorliegenden Band eine wichtige, wenn nicht gar die zentrale Rolle: Hier dreht sich alles um das Verspieltsein, Freisein, Erfinderischsein – auch wenn die Protagonisten weder Kinder noch Teenager sind und nicht einmal besonders jung, sondern eher schon in der Lebensmitte angelangt.

Ein namenloses Paar am Atlantik

Ein namenlos bleibendes Paar im besagten Alter lebt offenbar schon eine ganze Weile am Meer; Ort der Handlung ist, wie man irgendwann erfährt, die Atlantikküste, und zwar die kanadische in der Nähe von Halifax. Merkwürdigerweise – und das ist Stavaričs Stil – leben sie zwar in einem (Holz-)Haus und scheinbar wie die letzten Überlebenden irgendeiner Katastrophe, zugleich aber wird klar, dass sie sich sehr wohl in einer Stadt befinden und durchaus nicht allein an einem einsamen Strand, sondern zwischen den Häusern anderer Leute. Möchte man diese beiden Menschen schnell charakterisieren, so bieten sich zuallererst die Adjektive „kindlich-verspielt“ oder auch „verhaltenskreativ“ und womöglich „hyperaktiv“ an:

Wir haben eine Jukebox zum Strand getragen und 
Muschelgeld eingeworfen, Pfahlmuscheln schienen dafür am 
wenigsten geeignet. Die Gischt ließ schon bald
alle Anzeigen verschwimmen, während wir herumliefen (…) 

Es scheint, als wären die beiden immer wieder auf der Suche nach einem neuen Zeitvertreib oder aber auf Entdeckungsreise quasi vor der Haustür. Dabei ist allein schon die karge Küstenlandschaft mit ihrem rauen, feuchten Klima ein endloses Reservoir für Entdeckungen, Erfindungen und Fantasien. Aber auch die Nachrichten aus Radio, Fernsehen oder Internet werden von den beiden kommentiert und oft zum „Satz des Monats“ erklärt. Hier werden Details aus dem zeitgenössischen Alltag geschickt mit Szenen aus Träumen, Visionen und Fantasien verwoben, alles gleitet ineinander über.

Nummerierte Erzählgedichte

Die langzeiligen Erzählgedichte, meistens über eine Seite lang, sind durchgehend ohne Titel, aber nummeriert; sie quellen über vor maritimen Details, noch mehr aber vor Skurrilitäten.

In einer Fabrik an der Küste suchten sie nach
jemandem mit einer kräftigen Stimme. In den Mittagspausen 
sollten die Nachrichten des Tages verlesen 
werden. (…)

Wir malten voller Enthusiasmus Zitronen auf jedes Haus,
das uns gefiel. Ich gab zu bedenken, dass die Darstellungen 
beliebig anders gedeutet werden 
könnten. (…)

Gleichzeitig nutzt Stavarič sein Format, um auf gesellschaftliche Phänomene der Gegenwart aufmerksam zu machen, nicht selten auf eine spöttische Art – Trends der gesunden Ernährung, Genderfragen, Errungenschaften der Raumfahrt, medizinische Fragen, futuristische Fortbewegungsmittel, selbst Fragen der Weltpolitik, vor allem aber viele naturwissenschaftliche Details, insbesondere Wetterphänomene, Flora und Fauna, dann sogar Ansätze zur Selbstversorgung finden Erwähnung.

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Alles wird aber bloß gestreift, nichts ausgeführt, alles dient als möglicher Impuls für eine Metapher, eine trotz allem poetische Darstellung der physischen, geistigen und emotionalen Existenz dieses ungewöhnlichen und doch exemplarischen Paares. Nicht zuletzt sind diese Gedichte auch ein dezidiertes Spiel mit der Sprache. Manchmal werden Metaphern wörtlich genommen („im Bauch des Wals wohnen“), andere fallen einfach etwas kühner aus („Wir verhielten uns wie Grasbüschel“), dann sind es bereits vorgefertigte Wörter und Ausdrücke („Peugeot“, „Mann über Bord“, „Blitzschneisen“), die die Protagonisten zur näheren Betrachtung verführen. Oder man spielt einfach mit Begriffen wie „Kreide“ und „Kreidezeit“.

Zweisamkeit, Verbundenheit und das Vergehen der Zeit

Zusätzlich gibt es an zwei Stellen ein paar Gendersternchen mitten im Gedicht. Als ein Tribut an die englische Sprache sind zwei Gedichte auch in sehr schöner englischer Übersetzung (von zwei Übersetzerinnen) enthalten, was der Szenerie an der Küste von Nova Scotia zusätzliches Flair verleiht. Zu alledem arbeitet Stavarič auch noch mit Vermischungen von Mensch und Tier, Belebtem und Unbelebtem, mit massiven Übertreibungen und Szenen, die an Zeichentrickfilme erinnern.

„Die Suche nach dem Ende der Dunkelheit“ ist ein Sammelsurium an aberwitzigen Situationen. Der Leser, die Leserin ist gut beraten, sie nicht als einen Zyklus von Mini-Geschichten zu lesen, die kuriose Begebenheiten auf noch kuriosere Weise erzählen, sondern vielmehr als eine originelle Möglichkeit, von Zweisamkeit, Verbundenheit und dem Vergehen der Zeit zu erzählen. Der Mensch in einer bestimmten Landschaft, der Mensch in einer bestimmten Zeit und als Kind dieser Zeit, mit all ihren Objekten, Gewohnheiten und Tendenzen wird hier unaufdringlich porträtiert, stets mit einem Augenzwinkern. Nicht zufällig ist das letzte, ungewöhnlich lange Gedicht wirklich eines über das Zusammensein und Zusammenleben, und es endet mit einem „it’s just me and her (…) it’s just me and him“.


Michael Stavarič: Die Suche nach dem Ende der Dunkelheit. Gedichte. Limbus, Innsbruck – Wien, 2023. 96 Seiten. 15,00 Euro.

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