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„Wer wird an uns erinnern?“ Vom stillen Verschwinden

„Wer wird an uns erinnern?“ Vom stillen Verschwinden

Jana Volkmann liest diesen Sommer W. S. Merwins
Gedichtband Nach den Libellen


Bücher über Ruinen, Bücher über Hunde. Obwohl ich viel und gern Rezensionen schreibe und Literaturkritik für das vielleicht sogar wichtigste Medium öffentlichen Sprechens über Literatur halte, geht mir nichts über persönliche Empfehlungen. Ich mache mir manchmal ein Spiel daraus, in sozialen Medien nach Lektüren zu bestimmten Motiven, Themen oder Formen zu fragen, wenn ich zum Beispiel gerade eine Hunde- oder Ruinenphase durchmache. Dahinter steckt der unverrückbare Glaube an zweierlei: an die Klugheit meiner Freund*innen und an den Zufall. Fester Dank gebührt allen, die mir auf ähnliche Weise die tollsten und erstaunlichsten Leseerfahrungen beschert haben.

Beides, Freundschaft und Zufall, hat mich diesen Sommer zu den Gedichten von W. S. Merwin gebracht. Ivana Miloš, die Dichterin, Übersetzerin und bildende Künstlerin ist, hatte mir ein von ihr gedrucktes Lesezeichen geschenkt, auf dessen Rückseite sich ein Zitat, besser gesagt ein ganzes Gedicht, von Merwin mit dem Titel „Witness“ befindet:

I want to tell what the forests 
were like 

I will have to speak 
in a forgotten language. 

Nach den Libellen erschien 2018, ein Jahr vor Merwins Tod. Dass es die erste deutschsprachige Edition ist, ist einigermaßen erstaunlich: Merwin hat immerhin zweimal den Pulitzerpreis bekommen und es vor allem in den USA – er lebte seit den 1970er Jahren auf Hawaii – zu großer Berühmtheit gebracht.

Cover © Jana Volkmann

Die Übersetzungen ins Deutsche stammen von Hans Jürgen Balmes und sie halten der Probe stand, in der zweisprachigen Ausgabe Seite an Seite neben den Originalen zu stehen. Balmes hat auch das Nachwort verfasst, das Merwins komplexes, an unterschiedlichen Motiven, Formen und Referenzen reiches Schaffen kursorisch einordnet und die Auswahl für den Band reflektiert.

Die Wälder, die W. S. Merwin meint, gibt es nicht mehr. Mit ihnen ist auch die Sprache fort, mit der sich über sie sprechen – und an sie erinnern – lässt. Es nimmt in knapper Form vorweg, was das titelgebende Gedicht in Nach den Libellen schließlich ausführt und mit der pointierten Sprache eines Dichters, bei dem jedes Wort Gewicht und Belang hat, verschiebt. „there will be no one to remember us“ – der letzte Vers des Gedichts macht die Libellen zu Zeugen und uns zu denen, die nur flüchtig und fremd vor ihren seltsamen Augen erscheinen.

Neben den Lebewesen, die Merwin zu Protagonistinnen einiger seiner Gedichte macht (Füchsin, Libelle, Rotschwänzchen sind nur einige davon), den Flüssen, dem Regen und den Wäldern, widmet er andere Zbigniew Herberts Fahrrad, einer Bordkarte, verlorenen Freunden. Aber es sind seine spukhaften, immer im Verschwinden begriffenen Tiere, die mir am meisten im Gedächtnis bleiben. Zur gleichen Zeit wie Merwins Gedichtband lese ich – zur Recherche für einen Artikel, spiele ich mir vor, in Wahrheit aber aus einem längst darüber hinaus gewachsenen Interesse – über die Entwicklungen der neuesten Vogelgrippevariante, an der bereits unvorstellbare Mengen von Vögeln, insbesondere Seevögeln gestorben sind und die längst auch Säugetiere betrifft. Ihr Sterben geht leise vonstatten, zumindest in meinem Umfeld fast unbemerkt und unkommentiert. Weder Gespenster noch Gedichte bleiben von ihnen.

See Also

Ich bin eine heillose Stadtratte und lese die Gedichte mit Blick auf einen Ottakringer Innenhof. Unsere beiden Katzen sitzen oft am Fenster und schimpfen auf die Tauben, die, für sie unerreichbar, auf dem Dachfirst des Eckhauses sitzen. In den Abendstunden werden wir kurz gemeinsam Zeugen, wie die Fledermäuse ausschwärmen, ihre Kreise ziehen und plötzlich fort sind: Sie lösen sich zeugenlos auf in der für meine Augen undurchdringlichen Dunkelheit oder in der Geborgenheit ihrer Sommernester. Wer in Hinkunft mein Verschwinden bezeugen wird, weiß ich nicht. Wälder und Libellen dürften es kaum sein – Hunde und Ruinen vielleicht.


W.S. Merwin: Nach den Libellen. Gedichte. Englisch-Deutsch Edition aus dem Englischen von Hans Jürgen Balmes. München: Edition Lyrik Kabinett bei Hanser, 2018, 144 Seiten, Euro 19,-

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