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In Turkmenistan einmal

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Nicole Streitler-Kastberger liest Raoul Schrotts Inventur des Sommers


Raoul Schrott braucht man hierzulande nicht mehr vorzustellen, er ist Literaturwissenschaftler, Übersetzer und Schriftsteller und hat eine Vielzahl von Romanen, Essays, Abhandlungen und Gedichtbänden vorgelegt, die sich vor allem durch eine Nähe zu Konzepten und Figuren der Antike auszeichnen, was ihm nicht nur Lob, sondern auch Kritik eingebracht hat.

Der neue Gedichtband Inventur des Sommers trägt den Untertitel „Über das Abwesende“ und ist ein für einen Gedichtband umfänglicher Band, der sich wieder in antiken und zeitgenössischen Gefilden gleichzeitig aufhält.

Cover © Hanser

Dem Band ist eine Art Geleitwort vorangestellt, das den Titel „Inventar der Zwischenräume I“ trägt und in dem es unter anderem heißt: „(…) der Rahmen unseres ‚Ich‘ kann immer nur jene Impulse bearbeiten, die gerade neu sind und relevant erscheinen“ und „(…) das ‚Ich‘ ist bloß der Geist in der kognitiven Maschine, mit der wir durch die Welt navigieren“. Man sieht es schon, der Band rührt an Existenzielles und gibt sich philosophisch: „(…) zu sein heißt, wahrzunehmen und wahrgenommen zu werden“.

Apperzeption und „aufsteigende Erinnerungen“

Diese Philosophie des Apperzeptiven, der schon Heimito von Doderer huldigte, prägt den Band, dessen Gedichte vom „Abwesenden“, aber auch „Anwesenden“ sowie von verschiedenen „Inventuren“ handeln: des Sommers, des Herbstes und des Winters. Den Gedichtband beschließt, wie wäre es anders möglich, eine Art Epilog „Inventur der Zwischenräume II“, denn wo es ein Erstens gibt, muss es auch ein Zweitens geben, in dem Schrott noch einmal poetologische Prämissen preisgibt: In der „Gier“ und der „Begierde“ liege, heißt es hier, „die eigentliche Wurzel aller Poesie“, denn: „Ohne sich in etwas einzufühlen, ohne Empathie für seinen Gegenstand vermag man über nichts zu schreiben“. Und so habe er in seinen Gedichten „mittels der Konstruktion unterschiedlicher Themen (…) ein Bild der Absenten zum Vorschein kommen“ lassen, vergangene Momente „wieder aus dem Zwischenraum der Erinnerung“ zurückgeholt, um ihnen „eine Gestalt zu geben“. Das sind hehre Worte für durchaus Bekanntes: Natürlich schöpfen Autoren und Autorinnen aus der Erinnerung, wieder Doderers „aufsteigenden Erinnerungen“ eingedenk, oder aus der unmittelbaren Anschauung dessen, was ihnen im Moment des Schreibens vorliegt.

Der globalisierte Autor

Abwesendes und Anwesendes bilden die beiden Pole, zwischen denen sich die Schrottschen Gedichte bewegen, Antike und Gegenwart die anderen beiden Extreme, zwischen denen sie aufgespannt sind. Da ist von den Hethitern die Rede, von den Griechen und von Orakeln, und bereits im Vorwort erkundet Schrott seine „Berufsgöttin“, die Muse, und verortet sie in „Nordsyrien“ und „Anatolien“: die „Hepat-Musuni“ – „Hepat – Die Ordnende, Fügende, Gesetzgebende“ – sei „kraft ihrer Rechtsprechung“ zuständig gewesen für das „Ethos einer Gesellschaft“. Die in der Folge beschriebene Geschichte der Muse(n) kulminiert in der Einsicht, dass man heute das Wort Muse nicht mehr in den Mund nehmen könne, „ohne des Sexismus verdächtigt zu werden“.

Doch nun endlich zu den Gedichten: Mit der Kleinschreibung der Texte kontrastieren die in Versalien gehaltenen Gedichttitel. Die Gedichte sind allesamt datiert und lokalisiert. Die Orte des Schreibens reichen von Egg, dem Wohnort des Dichters, bis nach Lecce in Italien, Oruro in Bolivien oder dem irischen Cork. Schrott ist ein Tausendsassa und Weltenbummler, der Inbegriff eines globalisierten Autors. Deshalb trägt der erste Abschnitt der Gedichte auch den Titel „Vom Fortgehen und Zurückkommen“. Das eröffnende Gedicht „Inventur des Sommers I“ beginnt folgendermaßen:

an einem breiten strom in turkmenistan einmal
der aus seinem eden in die wüste aber nicht mehr zu einer mündung kam
hinter häuserwänden aus abbröckelndem lehm
das letzte schilf der böschung zerkaut von einem kamel
hätte ich nicht mehr gewusst wohin noch deuten für zuhause -
in welcher richtung des himmels es lag · ob nicht in meinem rücken schon

Das Gedicht kontrastiert Ferne mit Heimat, verfasst in Egg am 12.3.22. Eine grafische Idiosynkrasie fällt dabei auf: Schrott setzt gerne mittige Punkte statt Bindestrichen. Ihre Funktion ist eine ähnliche, wage ich zu behaupten. Die Gedichte sind kommentiert, nicht durch Fußnoten, sondern durch auf die Gedichte folgende oder ihnen vorausgehende kurze Prosastücke. So etwa zum Gedicht „Traurede“, dem zweiten des Bandes, das in Oruro am 19.11.17 verfasst wurde:

See Also

und da war plötzlich in dieser bolivianischen minenstadt, in der die kumpel in kleinen mit
stahltüren verschlossenen betonwürfeln hausten, in einer staubigen auslage dieses an die
wand gepinnte hochzeitskleid, das der sehnsucht eine durch nichts auszubeutende gestalt
verlieh.

Das darauffolgende Gedicht „Traurede“ rekurriert dann darauf:

der himmel breit · eine einzige stoffbahn
faltenlos und aus vogelseide
                 dein hochzeitskleid das schneide
dir daraus zurecht. zeige- und mittelfinger als schere
für diese wunderbare drehung in der leere
rüschen und rauschen · dazwischen gesplissener saum
                 schönheit zeigt sich in unterschiedlichen posen

Von der Alliteration zum Endreim

Die Sprache der Lyrik Schrotts ist eine sehr anschauliche begriffliche und bildliche, gelegentlich wird sie hermetisch, manchmal finden sich Alliterationen wie hier „rüschen und rauschen“, manchmal auch Endreime, wie etwa im Gedicht „Über das Abwesende XII“ („egg 24.11.21“):

am wasser · und wieder eine nacht
aus der man gegen vier uhr morgens erwacht
diesmal weil durch den gang wie aus weiter ferne
tropfen nacheinander auf dem email der badewanne zerplatzen
so fein als höre man ein sirren der sterne

Das Enjambement gehört zum Standard dieser Lyrik, die einerseits an die Wiener Avantgarde andockt (H.C. Artmanns „poetischer act“ wird sogar wörtlich zitiert und in mehreren Gedichten darauf angespielt), andererseits an die lyrische Tradition der Antike und der (deutschen) Romantik. Wie Fremdkörper muten darin die Schauspielerinnennamen Cameron Diaz und Kim Basinger an, die für zwei Gedichte titelgebend wurden, oder auch der Vers „früher hätten wir uns in den schlaf zurückgefickt“ (im zuletzt zitierten Gedicht). Vielleicht will der Autor seinen Gedichten damit etwas mehr Gegenwärtigkeit geben. Unnötig, denn die Texte selbst umkreisen Gegenwart und Vergangenheit in durchaus eigensinniger Weise. Ein Hang zu etymologischen Erklärungen (in den Prosastücken) verleiht dem Buch einen wissenschaftlichen Touch. Der Band ist edel ausgestattet, mit Fadenbindung und Hardcover mit aufgedrucktem Umschlagmotiv. Mein eigenes Exemplar ist beim Lesen sichtlich gealtert. Es war auch in Nizza am Strand, in Vorarlberg in den Bergen und in der Wiener Großstadt. Ein Schrott-Schicksal.


Raoul Schrott: Inventur des Sommers. Über das Abwesende. München, Hanser, 2023. 173 S. Euro 26,50.

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