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Idylle, bedroht

Idylle, bedroht

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Kirstin Breitenfellner liest Birgit Müller-Wielands Im Blick der beschämten Bäume


Einen Gedichtband mit der Evokation einer bombardierten Frühgeborenenstation im ukrainischen Mariupol zu beginnen setzt ein klares Ausrufezeichen: Diese Dichterin ist in der Gegenwart verwurzelt, als wache Beobachterin des Zeitgeschehens!

Birgit Müller-Wieland, 1962 in Schwanenstadt geboren, studierte in Salzburg Germanistik und Psychologie und promovierte mit einer Arbeit über Peter Weiss’ Ästhetik des Widerstands. Nach mehreren Jahren in Berlin lebt sie heute in München. Sie schreibt Romane, Essays, Libretti und Lyrik. Im Blick der beschämten Bäume ist ihr dritter Gedichtband.

© Otto Müller Verlag

Das zweite Gedicht setzt mit „Februar, grausamster Monat“ der Erschütterung des Kriegsbeginns, des Überfalls Russlands auf die Ukraine im Februar 2022, ein trauriges Denkmal – eine Anspielung auf den Beginn von T.S. Eliots Poem „Waste Land“, das mit den Worten anhebt: „April, ist he cruellest month breeding / Lilacs out of the dead land (…)“.

(…)
Februar, grausamster Monat, Spalt
zwischen Winter und Grün
kriechen Kriege heraus Mädchen
mit offenem Haar schwinden Väter
darin immer schmerzt dieser Tag der 
fehlt   ist   zu   viel
(…)

So wie in der letzten oben zitierten Zeile arbeitet die Autorin immer wieder mit den Räumen zwischen den Wörtern. In „ZENTRUM FÜR PRÄNATALDIAGNOSTIK“ im dritten Teil des Bandes werden etwa die „rabiaten Diagramme“, die anzeigen, was sein sollte, anhand des typografisch nachgebildet.

				sein
			es
		sollte
	also
So

+

Auch Farben spielen in den Gedichten Müller-Wielands eine tragende Rolle, sie geben ihnen Kolorit und damit Lebendigkeit. Sie betten die Zumutungen der Gegenwart, an denen sich die Autorin abarbeitet, vom Ukraine-Krieg bis zum Klimawandel, in ein Umfeld ein, das seine Unschuld bewahrt hat: die Natur, ihre „blauen Blumen“, die „goldgrünen Rinden“ der Bäume, die „blaue Seide“ des Himmels.

Mitte Europas

In der zweiten Hälfte des ersten Teils wendet sich die Autorin der Geschichte zu, dem „Herzen Europas“, das sie Ende der 1990er Jahre selbst bereiste. Die „Mitte Europas“ liegt für Müller-Wieland in den westlichen Gebieten der heutigen Ukraine, die wechselweise zu Polen, Österreich, der Tschechoslowakei und zur Sowjetunion gehörten – und deren Künstlerinnen und Künstlern sowie Einwohnerinnen sie Porträt-Gedichte widmet: etwa der die Kioskbesitzerin Raja Horodetska, die in Stanislaw Muchas Film „Die Mitte” (2004) porträtiert wird:

(…)
Bin in Österreich geboren
Schule in der Tschechoslowakei
Mutter geworden in Ungarn
Näherin in der Sowjetunion
Alt in der Ukraine

Immer hier geblieben
in der Mitte Europas
(…) 

Müller-Wieland zollt auch der Dichterin Olha Kobyljanska (1863–1942), die zunächst polnisch, dann deutsch und schließlich ukrainisch schrieb, und der rumänischen deutschsprachigen Selma Meerbaum-Eisinger (1924–1942), geboren in Czernowitz, Tribut. Dabei setzt Müller-Wieland allerdings Einiges an Vorwissen bzw. die Bereitschaft, „nachzugoogeln“ voraus.

Es lohnt sich, denn auf diese Weise lernt man, dass Holzarbeiter aus Goisern und Jodler aus Ischl und Ebensee 1775 in die Region Marmatien auswanderten – muss sich aber selbst daran erinnern, dass der junge Filmemacher Lukas Pitschneider deren Nachkommen in der Kino-Dokumentation „Die letzten Österreicher“ (2020) ein Denkmal gesetzt hat. Natürlich braucht Lyrik keine Erklärungen, aber manchmal wirkt dieses vorausgesetzte Bildungsgut doch ein wenig akademisch.

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Die eindrucksvolle, atemlose Ballade mit dem Titel „VOM PARADIESGÄRTLEIN“ über die Gegenreformation 1753 in Oberösterreich erinnert an klassische Vorbilder wie Conrad Ferdinand Meyers „Die Füße im Feuer“ – und setzt damit tatsächlich große Traditionen fort.

(…)
zur katholischen Kirch starrt die Bäurin

hin alle getauft brav den Leib Christi geschluckt
alleweil geduckt unter die Himmelskönigin oiso wo
is jetzt eicha Madl der Schinder legt dem Bauern
die Ketten an unentwegt drückt die Bäurin
das Kleinste im Finstern ist die Älteste ausm Haus
gschlichn oben im Wald nicht allein richtet den Kittel

sich und die Burschenhand die nach allem riecht
legt sich über den Mund drückt zurück in den Hals
ihren Schrei ... wendedieStraffevonmirab, daduden
Fluchdrohestallendenen, sosichaufMenschenund
aufsZeitlicheverlassen – in rasender Herznot
rasselts aus dem Paradiesgärtlein durchs Hirn –
(…)

Idylle, bedroht

In Teil zwei gewährt die Autorin anscheinend Erleichterung, sie begibt sich auf Reisen, in die Natur oder nach Griechenland. Dort kommt Müller-Wielands Fokus auf Farben zur ganzen Entfaltung. Aber auch hier lauert das Grauen, in Form von klimabedingten Invasoren:

(…)
Feuerfische, Eroberer des Mittelmeers, millionenfach.
Leicht gewiegt von der Strömung, schauten sie 
ungerührt, wie wir strampelten,
unsere Haut zu retten,
Schallwellen

hinterließen alle, panische Blicke,
Gift und Schmerz
(…)

Idyllen erweisen sich bei dieser Autorin stets als bedroht, vom heimischen „Paradiesgärtlein“ bis zum Urlaubsstrand an der Ägäis, wo Rettungswesten unerwünscht sind. Müller-Wieland versucht dieser Tatsache mit nüchternem Konstatieren beizukommen, aber bisweilen wird auch Sarkasmus hörbar. Das titelgebende Gedicht kann beispielhaft gelesen werden für diese literarische Stoßrichtung, um nicht zu sagen Methode – den Elfenbeinturm zu verlassen und, wenn notwendig, mit Spott und mit Wut, auf die Bedrohungen der Realität zu regieren, die zumeist der Mensch selbst verschuldet hat.

IM BLICK DER BESCHÄMTEN BÄUME

In den optimiertesten Wald sind wir geraten
Geschwister dümmer als dumm fraßen
jeden Brotkrumen wir tranken jede Quelle leer
teilten nichts mit Vogel Wurm Fuchs Wolf folgten
dem Verzehrmehrmehr! von diesen Grinsewinslern
Influenzrieslein Botoxfexen – Löschen! Löschen!
mit Tausendundeinernachtfeuerwehr und bytheway:
wer bittesehr zieht endlich mal den Spiegel runter
hält die Pole in Schach das Passwort den Namen ach
den richtigen Pincode möchte man schrein und
sich selbst zerreißen was ja auch nix hilft nur
Zaubertrank und Pharmawolke und letzter Vorschlag
ein Gedicht: Die größte Whistleblowerin aber
ist die Natur und besiegen werden wir uns komplett 
allein
im Blick der beschämten Bäume

Teil drei gibt diesen kritisch-verzweifelten Blick zwar nicht auf, aber findet trotzdem zu so etwas wie Versöhnung mit der Welt, zumindest der Natur, wenn das lyrische Ich an seinem „letzten Tag“ im heimischen Attersee versinken will und sozusagen in einem bejahten Tod mit diesem verschmelzen. Und dann gönnt sich die Autorin als letztes Gedicht doch noch eine Idylle – mit der Evokation eines über das sommerliche Feld fegenden Hundes, festgehalten in einem an Goethe gemahnenden „Verweile doch, du bist so schön“, einem Augenblick, der die Zeit aufhebt:

SCHNEEHUND, SOMMER

Wie der Hund so übers helle
Feld fegt schwarze Propeller die Pfoten

halten wir uns an den Händen hüpfen
Falter über diese Löwenzahnwiese
kitzeliges Sommerlicht

wo Schneewolken wirbelweißen
die Hundeohren tanzende Kopfflügel
immer und jetzt

Birgit Müller-Wieland: Im Blick der beschämten Bäume. Gedichte. Otto Müller, Salzburg, 2023. 84 Seiten. Euro 24,–

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