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Es gibt keine Wunder, alles Bestehende ist Wunder

Es gibt keine Wunder, alles Bestehende ist Wunder

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Kirstin Breitenfellner liest Srečko Kosovels Mein Gedicht ist mein Gesicht


„Eine Übersetzung kann nicht klingen wie das Original, aber sie muss klingen wie ein Original.“ So erklärt der 1953 in Saalfelden geborene Lektor, Übersetzer und Lyriker Ludwig Hartinger das Paradox der Transformation von Lyrik von einer Sprache in eine andere. Er muss es wissen, denn er übersetzt nicht nur selbst aus dem Französischen und Slowenischen, sondern hat sich letzterer Sprache so anverwandt, dass er sie akzentfrei spricht und sogar Lyrik in ihr verfasst. Anstoß dafür war ein Zufall, der dem Leben des noch suchenden jungen Hartinger eine Wendung gab.

Davon erzählte Hartinger auf einer Veranstaltung in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur in der Herrengasse am 19. Juni, einer Vorfeldveranstaltung des Gastlandauftritts Sloweniens im Herbst 2023 auf der Buchmesse in Frankfurt, die den Band „Mein Gedicht ist mein Gesicht“ vorstellte. Als die Moderatorin, die renommierte Literaturübersetzerin Amalija Maček, erklärte, dass im Zentrum des Gastlandauftritts die Lyrik stehen würde als die Form, die „uns Slowenen“ am meisten liege, dürften so manche österreichischen Zuhörerinnen und Zuhörer blass vor Neid geworden sein. Gut, dass es noch Länder gibt, in denen die Poesie hoch im Kurs steht!

Vom Glück der Nachwelt

Manchmal hat ein vergessener Dichter Glück, und er wird wiederentdeckt. Wobei das Glück dann wohl eher der Nachwelt zugesprochen werden muss.

Cover Kosovel Mein-Gedicht-ist-mein-Gesicht

Der slowenische Dichter Srečko Kosovel, geboren am 18. März 1904 in Sežana nahe Triest, starb mit nur 22 Jahren am 27. Mai 1926 an einer Meningitis. Er hatte gerade seinen ersten Gedichtband vorbereitet – und zu Lebzeiten nur ein Gedicht veröffentlicht. Im Nachlass jedoch befanden sich derer 1400, die 1977 in einer fünfbändigen Ausgabe erschienen.

Cover © Otto Müller Verlag

Mit ihnen zählt Srečko Kosovel heute zu den bedeutendsten Dichtern der slowenischen Poesie und der europäischen Avantgarde. Und das hat maßgeblich mit Ludwig Hartinger zu tun.

Dieser entdeckte nämlich in den 1970er Jahren in Paris zufällig ein Buch des Autors, der ihn von nun an nicht mehr loslassen sollte. Hartinger begab sich nach Ljubljana, sichtete den weitgehend unbearbeiteten Nachlass, und eine bis heute anhaltende Auseinandersetzung mit Kosovel begann. Zum 100. Geburtstag im Jahr 2004 erstellte Hartinger einen Prachtband mit Faksimiles. Manche Zeitungen zeigten sich zwar nicht sehr begeistert darüber, dass ein Ausländer ihnen einen Dichter zurückgab, den es gar nicht so richtig gekannt hatte. Trotzdem erreichte der Band acht Auflagen und firmiert damit als erfolgreichster Lyrikband der letzten Jahrzehnte.

„Mein Gedicht ist mein Gesicht“, erschienen bei Otto Müller, stellt die zweite Auflage eines 2004 erschienenen, von Hartinger übersetzten und zusammengestellten Bandes in der Edition Thanhäuser dar, der überarbeitet und um einige Texte ergänzt wurde. Ein Lebenslauf und ein Nachwort runden die Publikation ab.

Kosovels Gedichte werden wie schon in der ersten Auflage flankiert von Federzeichnungen und Holzschnitten von Christian Thanhäuser, der Kosovels geliebte Karstlandschaft, die in den Gedichten eine tragende Rolle spielt, in filigranen Strichen sichtbar macht. In kleinerer Schrift am unteren Seitenrand platziert, ergänzen Aufzeichnungen und Tagebuchnotizen die Gedichte – „wie ein unterirdischer Fluss im Karst“, erklärte Ludwig Hartinger. Dazwischen, finden sich Aphorismen. Da Kosovel seine Gedichte nicht datiert hat und der Nachlass sich in einer Schublade befand, aus der er beim Öffnen herausfiel, beruht die Reihenfolge nicht auf der tatsächlichen Chronologie.

Manche Gedichte lesen sich wie Prosa:

Geh nicht über den Karst, Bianca, daß sich deine Augen nicht verletzen. Denn mein Gedicht
ist Karst, ist Karst, ist Karst.
Denn mein Gedicht ist Gedicht der Wälder: der Eichen, der gekrümmten, dunklen und der
Föhren, der duftenden. (…)

Manche Aphorismen wie Kurzgedichte:

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Cover Kreidl Margret Mehr Frauen (klein)

Die Bora schärft den Karst.

In zahlreichen anderen Texten geht es um das Dichten selbst:

Gedicht.

Ich sitz da und schreib.
Vor meinem Fenster
goldenes Obst.
Alles ist Gedicht.
An meinem Fenster 
gibts keine weißen Vorhänge.

Auch dieses rote Laub
an den Reblatten: Gedicht.
Die Tigerkatze
schaut mich an
Ihr Auge: camera obscura.
Grünes Geheimnis.

An dich denk ich, die fortzog
wie ein weißer Schwan
über rote Wasser

Ein junger Dichter auf der Suche nach sich selbst

Ein noch sehr junger Mann auf der Suche nach sich selbst in einer bewegten Zeit: 1915 beendete in Tomaj der Erste Weltkrieg bzw. die nahe Isonzofront die unbeschwerte Kindheit. Nach Kriegsende gerät die Familie – bekennende Slowenen im nun italienischen Gebiet – politisch unter Druck. Kosovel beginnt in Ljubljana zu studieren und eignet sich im Eiltempo nicht nur die slowenische, sondern auch die europäische Klassik und Moderne an. Existenzielle Fragen und eine nietzscheanische Verzweiflung treiben ihn um, er ist enttäuscht vom akademischen Leben, der Politik.

„Wer bist du Mensch? Wohin bist du unterwegs? Wer bist du, arbeitsloser Lastenträger, der auf dem Stein im Schatten der Gartenmauer sitzt?“, fragt er 1925. „Ach, fast versink ich zuviel in Gedanken. (…) Alle sind auf der Flucht (…). Jeder hat ein Ziel, doch dieses Ziel ist für ihn nur eine Station. Er rastet und flieht weiter. Flüchtet, flüchtet und entkommt nicht.“

Zu den dominierenden Stilmitteln des jungen Dichters gehören Verknappung und Wiederholungen. Manche Gedichte erinnern an Georg Trakl. In anderen versucht er sich in avantgardistischen Spielen mit Listen, Zahlen und grafischen Elementen. Aber seine Stärke liegt in der pantheistischen Verschmelzung mit seiner Umgebung. „Es gibt keine Wunder, alles Bestehende ist Wunder“, lautet ein Aphorismus. Aber das bedeutet nicht, dass Kosovel alles in ein freundliches Licht rücken würde.

Schwarze Mauern brechen
Über meiner Seele.
Menschen gleichen
Fallenden Lichtern.
Ein einäugiger Fisch
schwimmt im Dunklen
schwarzäugig.

Der Mensch kommt
Aus des Dunklen Herz.
Mein Gesicht.

Was starrt ihr mir ins Gesicht.
Meinem Gesicht paßt kein Rahmen
das ist das Beste an ihm.
Jedes Leben ist alogisch.

Kunst sei immer Gegenwart, erklärt ein Notat, das heißt individuell, es gebe keine Entwicklung. Deswegen, möchte man hinzufügen, ist der ganze Kosovel in jedem Gedicht zu finden: ein junger Mann, der das „Kokettieren mit Kunst“ ablehnt, weil er sie zu leben versteht, der es ablehnt, sein Leben zu planen, weil er das Leben als Paradoxon und Chaos erkennt. Ein Suchender, der bereits angekommen ist.

„Ich denke und schreibe mehr, als ich veröffentliche, das erledige ich später, wenn mehr Zeit ist“, schrieb Kosovel voller Zuversicht 1924. An einer anderen Stelle heißt es: „100 Jahre nach mir wird keine Rede von mir sein.“ Zumindest mit Letzterem sollte Kosovel Unrecht behalten – und das verdankt er maßgeblich seinem Entdecker Ludwig Hartinger. Hartingers Übersetzungen klingen tatsächlich wie ein Original, trotzdem ist es schade, dass man den slowenischen Text in diesem gelungenen Band nicht sehen kann, um seinen originären Sound zu verstehen oder zumindest erahnen.


Srečko Kosovel: Mein Gedicht ist mein Gesicht. Invention einer orphischen Landschaft. Auswahl, Übersetzung aus dem Slowenischen und Komposition Ludwig Hartinger. Holzschnitte, Federzeichnungen Christian Thanhäuser. Otto Müller Verlag, Salzburg–Wien, 2023, 180 S., € 24,–

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