Nicole Streitler-Kastberger liest Paul Divjaks Dass die Bäume langsam sind, wissen wir. Thailändische Miniaturen

Paul Divjak (Jg. 1970) ist ein Tausendsassa: Autor, Medienkünstler, Kulturwissenschaftler und Duftexperte. Er hat in Zürich, Berlin, Warschau und Südostasien gelebt. Durch Erfahrungen in letzterem Wohnort ist auch sein aktuelles, siebentes Buch im Ritter Verlag entstanden. Der Untertitel „Thailändische Miniaturen“ verrät bereits den Bezug. Bei den Miniaturen handelt es sich um Texte, die in der Regel sehr kurz sind und durchaus narrativ.
Cover © Ritter Verlag
Den Gedichten beigegeben sind – und das ist die Neuheit dieses Buches – Interpretationen, die mit Chat GPT generiert und vom Autor nachträglich nur orthografisch bearbeitet wurden. Eine dritte Linie, die sich durch das Buch zieht, sind kurze Notate über das Leben in Thailand, Straßenszenen, Reminiszenzen.
KI-Literatur
Zuerst empfindet wohl der gediegene Leser von Lyrik eine natürliche Abwehr gegenüber KI-generierten Texten. Und das zu Recht. Mir ist es auch nicht anders ergangen. Die solcherart generierten Interpretationen sind auch sehr schematisch, mit dem immergleichen Beginn „Das Gedicht (…)“ und „Zusammenfassend (…)“ oder „Insgesamt (…)“ als Schlussformel. Keine Frage, das ist ein Experiment, so etwas zwischen zwei Buchdeckel zu packen. Wir werden alle über kurz oder lang zu KI-Expert:innen und können KI-generierte Texte auf Anhieb erkennen. So jedenfalls meine Erfahrungen in der universitären Praxis. Vielleicht wird es mit dem Klügerwerden der KI aber auch genau andersrum laufen, nämlich so, dass wir die Computertexte nicht mehr von menschengemachten unterscheiden können. Doch wie sehen die vom Autor generierten lyrischen Texte aus?
Shortcuts
Die Miniaturen sind in ihrer Kürze zumeist sehr eingängig, auch wenn Divjak unterschiedlichste Inhalte miteinander kombiniert. Die titelgebende erste Miniatur lautet folgendermaßen:
Die Bäume Wir beobachten die falschen Schatten Dass die Bäume langsam sind, wissen wir (Die Tiere tanzen an der Decke)
Das ist so ein prototypisches Divjak-Gedicht. Fast haikuartig in der Kürze, drei zunächst in keiner Beziehung stehende inhaltliche Elemente – Schatten, Bäume, Tiere – und der letzte Vers zudem in Klammern gesetzt. Dieses Schema wiederholt sich in dem Band vielfach. Die KI kommentiert: „Bäume sind Symbole für Zeit, Standhaftigkeit und das zyklische Wesen des Lebens.“ Und: „Die Zeile, ‚Die Tiere tanzen an der Decke‘, führt eine surreale und vielleicht metaphorische Ebene in das Gedicht ein.“ Zweifellos beides richtige Beobachtungen, allerdings etwas konventionell im sprachlichen Ausdruck. Die KI tut sich auch schwer darin, Ironie zu erkennen. So etwa am Beispiel des folgenden Gedichts:
Make-Up Spiele Wir sind nicht hübsch, nicht reich, das kann man sagen … Komm, lass es uns mit Radio versuchen! (Wir spielen Übertragung)
Die KI kommentiert: „Die Verwendung des Radios als Medium für Übertragung betont die Bedeutung von Kommunikation und Unterhaltung. Es könnte auch darauf hinweisen, dass in der virtuellen Welt des Radios die Möglichkeit besteht, in verschiedene Sphären einzutauchen und sich von den realen Herausforderungen zu lösen.“ Das ist, sorry, Bullshit. Vielmehr geht es doch hier, in durchaus witziger Art und Weise, darum, dass, wer nicht hübsch genug ist, eben Radio machen soll (statt Fernsehen oder Social Media). Die KI schnallt das nicht und plappert etwas Schablonenhaftes von Kommunikation und Unterhaltung. Das können wir echt besser!
Der globale Poet
Je länger man in dem Band liest, umso nützlicher erscheinen einem jedoch die Interpretationen der KI, weil sie Realien der südostasiatischen Kultur erklären, die man sonst nicht verstünde oder mühsam googeln müsste. Und diese südostasiatischen Realien sind es, gemeinsam mit einer durchaus sympathischen und heutigen Spiritualität auch, die den Reiz der meisten Texte ausmachen. Etwa von folgendem:
Masks will appear from above you Auf dem Bambusgerät am Haus gegenüber klettern die Bauarbeiter mit ihren bunten Masken überm Gesicht Eine Schüssel Tom Yam steht unberührt auf dem Tisch Der Klingelton des iPhones lässt mich aus meinem Tagtraum erwachen – Das war der Moment, in dem du mich verlassen hast
Okay, die Tom-Yam-Suppe, das „beliebte thailändische Gericht“, wie die KI schreibt, kennt inzwischen schon jede:r gelernte Österreicher:in, aber im folgenden Gedicht bewährt sich der Stellenkommentar der KI:
Heute, in aller Kürze BTS, MBK, BACC, ERR, WTF! (Self Portrait: A Woman Who Admires Thai Art)
Die KI meint dazu: „Das Gedicht ‚Heute, in aller Kürze‘ präsentiert eine Liste von Abkürzungen, die ikonisch für Bangkok und seine urbanen Einrichtungen sind.“ Was das genau für Gebäude sind, braucht hier nicht weiter erklärt werden. Bitte selbst nachlesen!
Die Themen, die sich durch den Band ziehen, sind: familiäre, freundschaftliche und beziehungstechnische sowie die Verbundenheit zwischen Mensch und Natur, Klimawandel und Spiritualität: „Wesen können sich wandeln, / Spiritualität braucht Zeit und Übung“, lesen wir da etwa. Meist ist das Spirituelle jedoch etwas versteckter. In Metaphern aufgehoben. Alles in allem ein buntes Konvolut fernöstlicher Ingredienzien, von dem indischen Epos Mahabharata bis zur Tempelanlage Angkor Wat, vom Floating Market Klong Bang Luang bis zu Sticky Rice with Mango.
Paul Divjak ist ein Global Poet. Und das angenehme an dem kredenzten, durchaus bekömmlichen Mahl ist, dass man meistens ohne die Interpretationen der KI auskommt. Oder wie diese immer wieder schreibt: „Die Suche nach einem ‚Kumpel mit drei Beinen‘ ist metaphorisch und lässt Raum für Interpretationen.“ Indeed!
Paul Divjak: Dass die Bäume langsam sind, wissen wir. Thailändische Miniaturen. Klagenfurt u.a.: Ritter 2024. 288 S. € 27,–